Wie muss diese Partei erleichtert sein. Sie ist es leid zu streiten, zu kämpfen, zu intrigieren und zu stürzen. Sie sehnt sich nach ein bisschen Frieden, ein bisschen Vertrauen - und ein nach ganz klein wenig Netzwärme. Weil Matthias Platzeck, der liebe Matze aus Potsdam, ihnen das alles versprochen hat, haben ihn die Karlsruher Delegierten mit einer Geste der Großzügigkeit gekrönt. Sie haben ihm ein Ergebnis beschert, wie es ansonsten nur in diktatorischen Regimen an der Tagesordnung ist: 99,4 Prozent.
Jetzt soll alles anders werden
Das bedeutet nicht, dass die SPD geeint wäre. Es bedeutet auch nicht, dass jetzt alles gut wird in dem gebeutelten Verein. Es bedeutet, dass die Partei in der nahenden Vorweihnachtszeit versucht hat, sich die Geschlossenheit herbeizuwählen, die der Parteivorstand vor gut zwei Wochen rüde weggestimmt hat. 24 Stunden bevor der neue Chef gekürt wurde, haben die Genossen zudem ihre beiden Alten verabschiedet, Schröder und Müntefering. Sie vertraten die alte, westdeutsche Sozialdemokratie, mit viel Arbeiter- und Aufsteigerblut in den Adern. Aber sie stehen, jeder auf seine Art, auch für eine Zeit, in der die SPD sich zerfleischt hat, in der sie sich in ritualisierten Flügelkämpfen zermürbt hat. Mit Platzeck soll anders werden. Er scheint etwas zu haben, jemand zu sein, der die Stimmung der Partei trifft.
Noch am Montagabend, beim "Parteiabend" in der abgedunkelten Karlsruher Schwarzwaldhalle, wo sich die Delegierten langsam in Stimmung getrunken hatten, gab der Regierungschef aus Brandenburg den gewitzten Entertainer. Mit einem "Jetzt wird gefeiert. Basta" mokierte er sich liebevoll über Schrödersche Rhetorik. So etwas gefällt. Und auch an diesem Dienstagmorgen gab den Brandenburger den Delegierten in seiner Bewerbungsrede das, was sie brauchen: Ein wenig Programm, ein wenig linke Rhetorik, einen wortreichen Schwur auf Einheit und Geschlossenheit - und aus etwas Persönliches. 75 Minuten brauchte der 51-Jährige dazu, rhetorisch noch etwas ungeschliffen, dafür inhaltlich verbindend - ohne jedoch so verbindlich zu werden, dass es irgendjemanden schmerzen könnte.
Vom Deichgrafen zum Friedensfürsten
Es sind abstrakte Begriffe und übergeordnete Werte, an denen sich die SPD in dieser Zeit orientieren möchte, in der die konkrete Politik so verdammt feinziseliert, so unangenehm pragmatisch und großkoalitionär sein muss. Auch Platzeck konzentriert sich eher auf die Maßstäbe als auf das Klein-Klein. Er sagt Sätze wie "Es darf niemals der Eindruck entstehen, es ginge uns um das Regieren nur um des Regierens Willen", ermahnt er seine Partei.
Und er fordert, wie so oft in den letzten Tagen, einen neuen Stil, der auf Vertrauen basiere statt auf Missgunst. Er fordert das für alle: für die SPD, für die große Koalition und für das Land. "Kaum etwas wird in unserem Land so dringend benötigt wie Vertrauen und Selbstvertrauen", sagt er. "Gut für unser Land ist alles, was mehr Vertrauen schafft und nicht weniger." Er warnt vor Politik-Gauklern und mahnt, dass man den Menschen im Lande Ehrlichkeit und Lauterkeit schulde.
Es sind rhetorische Pflaster, die der Mann aus dem Osten verteilt, der vom Deichgrafen befördert worden ist zu einer Art Friedensfürst. Nun salbt er die Wunden der Genossen, sagt, dass die Partei mehr sei als die Summe ihrer Flügel. Aber natürlich, Platzeck macht es an diesem Tag wirklich allen Recht, seien die Flügel auch Ausdruck einer lebhaften Partei. "Nur eine debattierende Partei ist und bleibt eine lebendige Partei", sagt er. "Nur eine lebendige Partei ist attraktiv und anziehend. Wo nichts los ist, geht niemand hin." Das nicht die Worte, die die Delegierten vom Stuhl reißen. Noch nicht. Eher pflichtschuldig klatschen sie dem Mann Beifall, der ihnen sagt, wie wichtig die Bildungspolitik ist, die Familienpolitik und was für ein tolles Beispiel Finnland ist.

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"Das ist links. Und das sind wir"
Emotional werden die Delegierten erst, als Platzeck ihnen erklärt, was links ist. "Wir müssen positiv definieren, wer wir sind, was wir wollen und warum wir es wollen. Da geht es um Prinzipien - um unsere Prinzipien und um die der anderen Parteien", sagt er. Die Volkspartei SPD könne nur erfolgreich sein als Partei der linken Mitte. Das Reizwort "links" reicht aus, um die Delegierten aufmerken zu lassen, sie richten sich auf.
"Links ist ein Begriff von Gerechtigkeit, der sich an Freiheit und Gleichheit orientiert", wirft Platzeck ihnen entgegen. Und er hebt die Stimme, ein wenig künstlich, aber so, dass sie merken, dass dies ein Höhepunkt seiner Rede sein soll. "Links bedeutet, alles zu tun, um bessere Lebenschancen für mehr Menschen zu schaffen. Links bedeutet immer Bewegung und Aufbruch. Links bedeutet Ideen und Zuversicht. Links bedeutet Weltoffenheit und nicht Abschottung, bedeutet Kreativität und nicht Verweigerung. Das ist links. Und wir sind das."
Da, es ist fast Mittag, hat er sie. Sie johlen, sie jubeln. Er hätte auch sagen könne, links bedeute, Fußballweltmeister zu werden. Was die Genossen suchen an diesem Tag ist ein Bekenntnis zur Sozialdemokratie, zu den alten Begriffen, auch wenn es sich um nicht mehr als Worthülsen handelt.
Platzeck, der Heiler aus Potsdam, lässt an diesem Tag niemanden ohne Pflaster entkommen. Er bekennt sich zu Andrea Nahles, lobt Franz Müntefering, den designierten Generalsekretär Hubertus Heil, die gesamte Ministerriege, die Gewerkschaften und, selbstredend, auch Noch-Kanzler Gerhard Schröder und dessen Friedenspolitik. Schröder, der auf dem Podium in der ersten Reihe sitzt, wirkt trotz physischer Präsenz bereits merkwürdig entrückt. Als Platzeck ihn preist und die Parteitags-Regie sein Bild dann auch noch in Großaufnahme auf die Leinwand projiziert, guckt Schröder dickäugig, als hätte er bis um sechs Uhr morgens durchgefeiert. Fast verlegen stiert er in die Kamera. Aber egal, auch Schröder wird von Platzeck mit Liebe und Pflastern überschüttet.
"Der wird ganz groß"
Ganz am Ende seiner Rede liefert der zu diesem Zeitpunkt noch designierte Parteichef auch noch das Bekenntnis zu Ostdeutschland. "Ich bin klipp und klar ein Ostdeutscher", sagt er. Und: "Ich bin das gerne - und stehe dazu." Er berichtet davon, dass er vor 16 Jahren das erste Mal über die Glienicker Brücke gegangen sei, auf der Ost und West früher Spione tauschten. Jedes mal, wenn er auch heute noch über diese Brücke gehe, ergreife ihn ein Glücksgefühl, dass er sich nicht werde nehmen lassen, sagt Platzeck.
Als er endet, stehen sie wieder auf, die Delegierten, wie gestern schon bei Müntefering und bei Schröder. Gestern beklatschten sie einen Abschied, heute wollen sie einen Neuanfang beklatschen. "Das war eine sehr aussagekräftige Rede, die zurecht Beifall erhält", sagt ein Delegierter aus Niedersachsen, Platzeck werde den Neuanfang hinbekommen, da ist er sich sicher. "Ich bin begeistert von der Rede, weil ich ihm nicht zugetraut hätte, dass er den pragmatischen Teil so wunderbar verknüpfen würde mit dem notwendigen emotionalen Teil", sagt einer aus Bayern.
Die Rede war gut und motivierend
"Die Rede war gut, sehr motivierend. Ich freue mich auf den Neuanfang", pflichtet eine Hessin bei. Ein Delegierter aus Sachsen-Anhalt ist schlichtweg begeistert. "Großartig", habe er die Rede gefunden. "Er hat einen weiten Bogen geschlagen und die Ziele und Visionen der Sozialdemokratie dargestellt. Ich komme aus dem Osten, dass in der gesamtdeutschen Politik die Frage der Integration zwischen Ost und West weitere Aufmerksamkeit verdient. Und Platzeck wird da ein Auge darauf werfen", schwärmt er weiter.
Einem Saarländer hat besonders Platzecks bescheidene Art imponiert. "Er hat sich nicht in den Vordergrund geschoben, sondern hat versucht, den Leuten klar zumachen, dass es gemeinsam und nicht einsam geht", sagt er. Und dann fügt er klatschend hinzu: "Der wird ganz groß."