TV-Talk im Ersten Bei den Indianern von Anne Will

Von Jan Rübel
Herr Glos war noch nie bei Lidl. Herr Lafontaine macht Wahlkampf im Saarland. Und Betriebsräte eignen sich nicht zur Verbrecherjagd. Anne Will hatte am Sonntagabend viel um die Ohren, lauter mindere Informationen und Geschwätz - nur dem eigentlichen Thema wollte sich keiner der Studiogäste nähern.

Sie hatte sich so viel vorgenommen. "Bespitzelt, ausgeliehen, unterbezahlt - Vollbeschäftigung um jeden Preis" hieß der Titel bei Deutschlands wichtigster Talk-Sendung. Die Moderatorin wollte der spannenden wie wichtigen Frage nachspüren, wie viel "Schöne neue Welt" in Deutschland steckt, wie viel an Schreckenszenarien, wie in der Kontrollgesellschaft des gleichnamigen Romans von Aldous Huxley, sich hier etabliert. Das war wohl zuviel für 60 Minuten, für eine zu zahm moderierende Anne Will und vor allem, weil sich die Redaktion gleich für einen ganzen Korb von Themen entschied und damit fröhliches Hin und Her ermöglichte.

Die Agenda gesetzt hatte der von stern und stern.de vor eineinhalb Wochen aufgedeckte Überwachungsskandal beim Lebensmittel-Riesen Lidl. Weil die halbe Republik die Ohren spitzt, was in den blau-gelben Filialen nicht alles an Überwachung und Aktenhuberei gegen die eigenen Mitarbeiter eingesetzt wird, wollte Anne Will von diesem Thema nicht lassen. Aber sie wollte mehr. Bei Anne Will sollte nach den politischen Folgen des Lidl-Skandals gesucht werden, nach einem Überbau. Doch die Choreographen der Sendung hielten sich zu sehr beim Fundament auf. Man hätte sich entscheiden sollen: Entweder 60 Minuten lang den Lidl-Skandal und das schwärende Misstrauen zwischen Arbeitgebern und -nehmern zum Thema machen - oder die Chancen und Untiefen von Zeitarbeit auf dem Weg zur Vollbeschäftigung erörtern. Für beides gemeinsam war nicht genügend Platz, und so kam ein Spagat heraus, bei dem beide Seiten keine gute Figur machten.

Märchenstunde mit Onkel Lidl

Einen echten Hingucker präsentierte Anne Will mit Jürgen Kisseberth. Der Herr von der Lidl-Geschäftsführung wusste indes, warum er sich nur vor der Sendung allein von Anne Will interviewen ließ; die anderen Studiogäste wie Oskar Lafontaine oder Günter Wallraff wären mit ihm wohl weniger kulant umgegangen. Während der Manager von "Zeichen setzen" und "Neustart" radebrechte, machte Will ganz auf softe Lehrerin. "Haben Sie Ihr Unternehmen nicht im Griff?", fragte sie besorgt, oder: "Kann Ihnen der Schaden helfen?" Herrn Kisseberth half zumindest Wills Nettigkeit, um von Fußball-Cups zu schwärmen, die Lidl für seine Mitarbeiter organisiere, als Beleg dafür, warum man bei Lidl keine Betriebsräte braucht. Den sinnfreien Gipfel erklomm er unwidersprochen mit der Aussage: "Wir sehen die Betriebsräte nicht als notwendig an, gegen Diebstahl vorzugehen." Lidl hat rund 2900 Filialen. In sechs von ihnen gibt es einen Betriebsrat.

Nach solchem Schocker, da war sich der Zuschauer sicher, müssten die übrigen Gäste die Runde retten. Am besten mit einer ordentlichen verbalen Keilerei. Doch in die Maske, in der die Gäste vor Beginn der Sendung optisch aufgehübscht werden, muss ein unzufriedener Praktikant als Bonbons getarnte Schlaftabletten geschmuggelt haben. Keiner kam auf die von ihm gewohnte Betriebstemperatur.

Enthüllungsjournalist Günter Wallraff konnte nur vermelden, wie erschrocken er mal wieder sei. Linke-Fraktionschef Oskar Lafontaine jammerte kleinlaut über fehlendes Vertrauen von Managern in die Demokratie und widmete sich lieber dem "hier bei uns" - und meinte nicht seine Genossen in der Partei, sondern das Saarland. Schließlich sind dort im Herbst 2009 Landtagswahlen, und Lafontaine übte als möglicher Spitzenkandidat schon einmal den Schulterschluss mit der fernsehenden Basis. Größter Arbeitsverweigerer war schließlich Michael Glos (CSU). Der Wirtschaftsminister fühlte sich latent nicht angesprochen. "Woher soll ich das wissen" und "Das ist nicht meine Sache" brummte er typisch deutsch zur Videoüberwachung von Lidl-Mitarbeitern. Kleine Sorgenfalten trieb Glos nur auf die Stirn, dass durch solcherlei "Auswüchse" die Unternehmerschaft insgesamt schlecht geredet werde - und erteilte flugs einen Arbeitsauftrag an Günter Wallraff: "Vielleicht kann Herr Wallraff einmal Unternehmen ausspionieren, die besonders viel für ihre Mitarbeiter tun." Gesagt, fiel Glos in seinen Sessel und die eigene Unlust am Diskutieren zurück.

Das frühe Ende einer interessanten Debatte

Nur einen juckte es. Unternehmer Hans Rudolf Wöhrl wollte anecken, für die Nöte seiner Zunft sprechen. Zwar kam er reichlich selbstherrlich daher, als er Kameraüberwachung durch Ladenmanager mit Verkehrskontrollen durch Polizisten verglich und die alte Mär wiederholte, Arbeitnehmer sollten mit ihren Problemen doch bittschön direkt zu ihren Vorgesetzten gehen, dann brauche man Betriebsräte nicht (was man wiederum mit dem Wolf im Schafspelz vergleichen könnte). Aber immerhin heizte er eine wirklich interessante Debatte an, die nur wegen der wenigen verbleibenden Zeit über ein Glühen nicht hinauskam. "Firmen können so atmen", sagte er über die Zeitarbeit. Denn wer über Vollbeschäftigung in Deutschland redet, kommt um Zeitarbeit nicht herum, sie ist Boombranche schlechthin. Wöhrl weiter: 40 Prozent würden später in einen festen Job wechseln. Endlich war der Fernsehabend bei einer richtigen Debatte angekommen. Wallraff kritisierte nun, dass tarifliche Arbeit in Deutschland reduziert werde. "Das gefährdet die demokratische Gesellschaft", warnte er. Und Glos ließ sich seine Wünsche entlocken: dass Unternehmen flexibler einstellen und kündigen können. Eigentlich sein uneingeschränktes Lieblingsthema, aber da war die Sendung schon um.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Wie schade. Weil "Zeitarbeit", "Tariflichkeit" und "Vollbeschäftigung" unsexy klingen, hatte Anne Will nicht allein damit die Sendung bestücken wollen. Stattdessen verhedderte sie sich im Dickicht des Lidl-Skandals, um am Ende nur noch der wenigen Zeit für die Suche nach den politischen Folgen nachzutrauern. Der Zuschauer fand sich schließlich in einem Western wieder: Immer wieder umkreisten die Indianer die Wagenburg, schossen Pfeile ab und machten Tamtam. Die Festung eingenommen aber haben sie nicht.

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