Bei "Anne Will" sind Sie als energischer Atomkraft-Befürworter in Erscheinung getreten. Warum, Herr Herles?
Ich bin kein Atomkraft-Befürworter. Man muss aber bei jeder Technologie - ob das Gentechnik, Flugzeuge, Autos oder Kernenergie ist - sehen, dass es Risiken gibt, aber auch Vorteile. Die muss man abwägen. Es kann ja sein, dass man jetzt zu der Abwägung kommt, Kernenergie ist uns zu gefährlich, wir verzichten drauf. Man darf aber nicht die Technologie als solche verteufeln. Die friedliche Nutzung von Kernenergie ist nicht verteufelnswert. Es ist eine sinnvolle Brückentechnologie, die man einige Jahrzehnte lang gebraucht hat und braucht, um wegzukommen von Energieformen, die kein bisschen weniger gefährlich sind. Wenn man jahrelang über den Klimaschutz redet und wie wichtig es ist, dass man ohne CO2 auskommt, dann muss ich doch das Gesamtbild im Auge behalten und nicht in Panik verfallen aufgrund eines einzelnen Ereignisses. Wir Deutschen reagieren panischer als die Japaner.
Beeinflusst das Reaktorunglück in Japan nicht Ihre Bewertung der Kernenergie?
Aus jedem Unfall, aus allem, was schief geht, lernt man. Es ist aber die billigste Methode zu sagen, wir schalten einfach ab. Um den Rest kümmern sich die anderen. Die Chinesen sollen in den nächsten Jahren 50 Atomkraftwerke mehr kriegen, aber wir haben abgeschaltet und deshalb ein gutes Gewissen. Viel moralischer wäre es zu sagen, wir machen mit bei dieser gefährlichen Geschichte und weil wir mitmachen, können wir auch technisch mitmachen und Verbesserungen entwickeln. Das wäre verantwortungsvoll für ein Industrieland. Aber einfach zu sagen, wir sind die deutschen Romantiker, ist mir zu wenig.
Welche Reaktionen haben Sie auf Ihren Auftritt bei "Anne Will" erhalten?
Die Reaktionen waren zu 90 Prozent negativ. Aber natürlich haben mir auch Leute gratuliert. Auch Mitglieder der Bundesregierung, um es mal ganz deutlich zu sagen.

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Haben Sie Verständnis für die Ängste vieler Deutscher, die einen schnellstmöglichen Ausstieg aus der Kernenergie fordern?
Für Leute, die Angst haben, muss man Verständnis haben. Aber ich kann doch nicht meine Fortschrittsskepsis zum Maßstab machen. Meine Besorgnis ist, dass wir in Deutschland gar nichts mehr hinkriegen. Dass wir in einer generellen Angststarre jede neue Technologie ablehnen, wie die Gentechnik. Meine Besorgnis ist die generelle Fortschrittfeindlichkeit. Es ist doch alles gefährlich: Gentechnik, das Internet - all das ist genauso gefährlich für die Gesellschaft. Wenn ich auf alle Gefahren der Technologien so reagiere wie auf die Kernenergie, dann kann ich dichtmachen. Wir müssen eine Risikokultur entwickeln, wie es der Soziologe Ulrich Beck gefordert hat, indem wir Risiken abwägen. Ich kann die Risiken nicht durch Abschalten bewältigen.
Zur Person:
Wolfgang Herles war von 1987 bis 1991 Leiter des ZDF-Studios in Bonn. Seit 2000 leitet und moderiert er im Zweiten das Kulturmagazin "aspekte". In seiner Online-Kolumne "Notizen aus Berlin" kommentiert er wöchentlich das aktuelle Geschehen. Am 1. Juli 2011 wechselt Herles an die Spitze einer neuen “Redaktion Literatur” im ZDF und wird demnächst sechs Literatursendungen im Jahr moderieren.
War es richtig, dass die Regierung ein dreimonatiges Moratorium verhängt hat?
Ich fand, dass die Bundeskanzlerin richtig reagiert hat, indem sie sagt, wir werden jetzt aufgrund der neuen Erkenntnisse noch einmal alles überprüfen. In dieser Kombination: Erdbeben in dieser Stärke, plus Tsunami, plus enorme Bevölkerungsdichte, ist die Situation in Japan mit der Lage bei uns nicht vergleichbar. Trotzdem muss man aus Japan lernen. Lernen heißt aber nicht, in Panik zu verfallen und alles abzuschalten. Aber das hat Frau Merkel auch nicht gefordert. Man darf jetzt nicht das Geschäft der Kernkraftgegner betreiben und sagen: Die Welt hat sich verändert und heute ist alles anders als vorher.
Angela Merkel selbst hat dieses Pathos verwendet.
Das stimmt. Ich bin ja auch gegen dieses Pathos. Ansonsten hat sie aber vernünftig reagiert.
Findet in den deutschen Medien eine offene Debatte über Kernenergie statt?
Vorher war es möglich, seit Freitag werden Sie Tsunami-mäßig weggeputzt, wenn Sie eine andere Meinung vertreten. Es ist im Moment schon schwer, abweichende Meinungen hörbar zu machen.