Zwischenruf Berliner Komödie

Jahrhundert-Reformen? Es hat sie nicht gegeben, und es wird sie nicht geben - auch nicht mit der Großen Koalition. Abschied von einer deutschen Illusion. Aus stern Nr. 38/2006

Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren", heißt es in Dantes Göttlicher Komödie auf dem Tor zum Inferno. "Lasst, die ihr wählt, alle Illusionen fahren", sollte über dem Portal des Reichstags in Stein gemeißelt werden. Die trügerische Hoffnung auf Einschneidendes, Umwälzendes, atemberaubend Kühnes. Auf große Lösungen für die großen Probleme. Auf das, was die Politik Jahrhundert-Reformen zu nennen pflegt. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Unfair nennt es Franz Müntefering, der Vizekanzler, Parteien nach der Wahl an ihren Versprechen zu messen. Er untertreibt. Es ist nicht unfair. Es ist blöd.

Lasst, die ihr noch glaubt, den Glauben fahren. Den Glauben an den großen Frieden nach großen Entscheidungen. An frisches Vertrauen aus rückhaltloser Ehrlichkeit. An die revolutionäre Rentenformel, die 50 Jahre hält. An das Gesundheitssystem, das transparent, sparsam und gerecht ist. An die Steuererklärung, die auf einem Bierdeckel Platz findet. An Soziallasten, die von den Arbeitseinkommen weggenommen und durch Steuern auf die Schultern aller umgeladen werden. An Sicherheit durch lupenreine Klarheit also.

Erkennt, die ihr sehen könnt, eure Selbsttäuschung. Sie ist die Wurzel eures Missmuts, eurer Lähmung, eurer Verzweiflung. In diesem Land gibt es keine radikalen Schnitte, die Faules gründlich ausräumen, keine mutigen Taten, die Jahrhundert-Taten zu nennen wären. Dafür fehlt es den Parteien an patriotischer Entschlossenheit und charismatischem Personal. Dafür fehlt es dem politischen System an Beweglichkeit und Effizienz. Dafür fehlt es euch selbst an Klugheit, Wagemut und Bereitschaft zum Verzicht. Die Große Koalition der kleinen Schritte ist die Summe all dessen. Beschimpft sie nicht, sie ist wie ihr. Solange ihr so seid, wie ihr seid. Maßlos in den Ansprüchen, bodenlos in der Prinzipientreue, mutlos vor den Aufgaben. Die Koalition will alles gewinnen, aber nichts riskieren. Ihr auch.

Blickt, die ihr nach Visionärem ruft, der Wirklichkeit ins Auge. Das glücklich vereinte und unglücklich gespaltene Deutschland ist nicht das Land der historischen Würfe. Und wird es auch nicht werden. Die Koalition ist eine Fummel-Koalition, so wie alle Koalitionen vor ihr. Wie die Koalitionen, die folgen. Denn die werden, das steht zu fürchten, nicht nur aus zwei, sondern aus drei Parteien zusammengeleimt sein. Das Puzzle ihres Regierens wird noch klein- und vielteiliger werden.

Erinnert, die ihr die Gegenwart verflucht, die Vergangenheit. Jahrhundert-Reformen wurden zu allen Zeiten beworben - und nie verkauft. Hinter großkotzigen Schildern gammeln Dauer-baustellen. Willy Brandt, Reformkanzler der ersten sozial-liberalen Koalition, versprach in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969: "Unser Ziel ist es, ein gerechtes, einfaches und überschaubares Steuersystem zu schaffen." Alex Möller, sein Finanzminister, versprach ein "Jahrhundertwerk" - wie fast alle seine Nachfolger. Paul Kirchhof, sein visionärer Fast-Nachfolger, wurde niederkartätscht, weil er es ernst meinte mit seiner Flat-Tax. Das Erschießungskommando zählte viele Freiwillige. Seine vermeintlichen Freunde riefen zuerst: Feuer frei! Eine exemplarische Hinrichtung. Auf Kirchhofs politischem Grab wächst keine Reform-Blume mehr. An den Gräbern der anderen Jahrhundertwerke schaufelt die Große Koalition. In 20 bis 30 Jahren, glaubt Günther Oettinger, der als Reformer der CDU gilt, könne die blutrot defizitäre Pflegeversicherung privatisiert sein. Schaufeln mit kleiner Schippe.

Seid wie die Italiener in ihren wirren 70er Jahren - ihnen war (fast) egal, wer sie regierte. Starrt nicht auf die Politik. Rührt euch! Lebt!

Verkennt nicht, die ihr das Unmögliche von den Großparteien verlangt, was ihnen möglich ist. Als Überzeugungsgemeinschaften sind sie zerfallen. Jeder will jedes in jeder Partei. Die Mitte ist ihr Ground Zero - eine gewaltige Baulücke, umwuselt von zankenden Architekten. Nichts, was einst galt, gilt noch. Die CDU will Kopfpauschale und Bierdeckelsteuern selbst nicht mehr. Was will sie aber stattdessen? Die SPD hat sich an Hartz die Finger verbrannt. Was will sie nun überhaupt noch? Wir werden regiert - aber wissen wir eigentlich, von wem? Die Kanzlerin Maggie Merkel zu nennen, käme niemandem mehr in den Sinn. Was aber will sie sein, wenn nicht die Radikalreformerin, die sie sein wollte? "Die Leute wollen ein Stück den Eindruck, dass die Politik gestaltet", sagt sie. So klingt ein Offenbarungseid.

Tröstet euch, die ihr darüber klagt, an Greifbarem. Erlöst euch selbst, wenn die Politik keine Erlösung bringt. Nehmt es, wie es war, ist und sein wird. Die Wirtschaft hat das getan, hat sich gewandelt, wie es gewandelte Märkte von ihr verlangen, hat auch ohne Politik aus der Krise gefunden. Gesundheit, Alter und Auskommen zu organisieren, dazu braucht es keine Jahrhundert-Reformen. Seid wie die Italiener in ihren wirren 70er Jahren - ihnen war (fast) egal, wer sie regierte. Starrt nicht auf die Politik! Rührt euch! Lebt! Erst wenn ihr die Hoffnung auf Großes fahren lasst, findet ihr Halt im Kleinen.

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Hans-Ulrich Jörges