Zwischenruf Deutsche Filz AG

Alles ist marode, bloß die Wirtschaft nicht? Welcher Irrtum! Sie braucht eine wahre Kulturrevolution - auch die Mitbestimmung darf nicht mehr tabu sein. Aus stern Nr. 51/2003

Einem System wird der Prozess gemacht. Nicht bloß einem besonders spektakulären Fall von rauschhaft gierigen Managern, doppelzüngigen Gewerkschaftern und öffentlichkeitsblinden Aufsichtsräten. Wenn ab Januar in Düsseldorf der abgetretene Mannesmann-Lenker Klaus Esser, der gescheiterte IG-Metall-Führer Klaus Zwickel und der barmende Deutschbanker Josef Ackermann im Feuer der Fotografen auf der Anklagebank gegrillt werden, dann geht es um mehr als nur jene irrwitzigen Millionen-Prämien und Abfindungen, die Vorstände und Aufsichtsräte von Mannesmann ausgekungelt hatten, als der deutsche Traditionskonzern von dem britischen Mobilfunker Vodafone heiß und fettig verschlungen wurde.

Dann wird die Tür aufgetreten zum Allerheiligsten des deutschen Wirtschaftsmodells - zur Mitbestimmung. Und es öffnet sich der Blick auf den Altar der sozialen Marktwirtschaft, an dem die Liturgie der Hohepriester von Kapital und Arbeit gründlich durcheinander geraten ist. Jahrzehnte haben sie die Wohlstandsmesse gemeinsam gelesen, in gemessenem Ritual Kerzen entzündet und Weihrauch geschwenkt vor dem entzückten Publikum.

Die Gläubigen verlieren den Glauben

Nun aber lässt die Globalisierung die Kerzen flackern. Was im Ausland längst üblich ist, opulente Wohltaten für Manager, taucht den einst strahlenden Konsens ins Zwielicht unanständiger Kungelei. Die Gläubigen verlieren den Glauben. Alles in Deutschland ist marode, bloß die Wirtschaft nicht? Welcher Irrtum! Nicht nur die Mitbestimmung gehört auf die Tagesordnung - die gesamte deutsche Wirtschaftskultur ist reif für Reformen, so einschneidend wie bei Rente und Gesundheit. Deutschland neu zu begründen, diese Aufgabe der Politik müsste scheitern, bliebe die Wirtschaft ausgespart.

Denn deren Zustand ist bestürzend. Die Welt der Unternehmen und ihrer Verbände ist so bürokratisiert, so hierarchisch zementiert, so intransparent verkungelt wie der Staat. Die Deutschen bauen noch erstklassige Autos und Maschinen, revolutionierende neue Ideen oder Produkte aber hat man im Treibhaus des Mehltaus seit Jahrzehnten nicht mehr gezüchtet - und wenn, dann schon als Setzling ans Ausland verschenkt wie den Transrapid. Made in Germany? Murks aus Germany, blinkt die Leuchtschrift über der Pleite des Mautsystems. Kreativität und Wagemut sind in Konzernen exotische Tugenden geworden, sie nisten bei kantigen oder kauzigen Mittelständlern. Reist der Wirtschaftsminister nach Russland, muss er sich anhören, wie unternehmerische Draufgänger die drögen Trägen in Deutschland verlachen. Betritt ein Jungpolitiker als Praktikant die Kontore eines Konzerns, kehrt er entsetzt über Duckmäusertum und Repression zurück. Die Wirtschaft als Vorbild? Vergiss es!

Ein Millionensalär vor Millionenpublikum rechtfertigen

Die deutschen Wirtschaftsführer sind bis heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht in der Mediengesellschaft angekommen. Die Fernseh-Talkshows fahnden verzweifelt nach artikulationsfähigen Managern, die mehr können, als in Hauptversammlungen rhetorisches Sperrholz zu sägen, Blatt für Blatt. Die politische Feigheit nicht als erste Charaktereigenschaft eines Vorstands betrachten. Die selbstbewusst genug sind, ihr Millionensalär vor Millionenpublikum zu rechtfertigen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Wagemut nistet nur noch bei kantigen oder kauzigen Mittelständlern

Das System hat diese Männer grau eingefärbt. Ihr System ist das des notorischen Konsenses und der kieselglatten Mitbestimmung. Welcher Vorstand will schon gegen die Stimmen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat berufen werden? Und welcher Arbeitgeber-Funktionär verlässt ohne Not das warme Hinterzimmer ritualisierter Tarifverhandlungen? Als die IG Metall in diesem Jahr den Streik im Osten verlor, jammerte niemand so herzergreifend über den drohenden Untergang der Gewerkschaft wie die Metall-Arbeitgeber.

Man hat sich

Man hat sich, man braucht sich, man bedient sich. Gemeinsam wurden die Sozialkassen geplündert - durch Frühverrentungen etwa oder ein Netzwerk von Instituten zur Fortbildung Arbeitsloser -, gemeinsam wurde das lähmende Tarifsystem gestrickt. Glaubt wirklich jemand, Arbeitgeberpräsident Hundt habe mit DGB-Chef Sommer ernsthaft darüber verhandelt, die Tarifverträge durch betriebliche Bündnisse für Arbeit zu durchlüften? Und die eigenen Funktionäre zu entmachten?

Das sollen die Politiker mal wagen! Wer von denen findet nun den Mut, gleich zwei Tabus der Deutschen Filz AG zu knacken: Tarifverträge und Mitbestimmung? Ein Empörungsschrei wäre der Lohn. Billiger aber ist die Neugründung Deutschlands nicht zu haben.

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Hans-Ulrich Jörges