Selbst beim Opportunismus gibt es Klassenunterschiede. Turmhohe oder abgrundtiefe - wie man?s nimmt. Der eine baut einen wahltaktischen Winkelzug zu einer strategischen Position aus - und gewinnt damit Anhänger wie Statur; die andere verliert über die falsche Taktik auch noch die Strategie - und verliert damit Sympathien wie Format. Der eine verstetigt einen Schlingerkurs zu einer Grundsatzposition; die andere kurvt aus klarer Position auf Schlingerkurs. Der eine erobert über die Außenpolitik wieder innenpolitisches Terrain; die andere büßt durch die Außenpolitik innenpolitischen Boden ein. Der eine wendet mit raffinierten Schachzügen seine drohende Isolation ab; die andere riskiert mit groben Fehlern ihre Isolation. Der eine vereint seine zerstrittene Partei hinter einer populären Position; die andere entzweit ihr geeintes Lager durch eine volksferne Verirrung. Der eine zeigt Instinkt, setzt mit dem Bauch das Hirn in Bewegung; die andere ist oberschlau, vergisst übers Hirn ihren Bauch.
Gerhard Schröder und Angela Merkel - ein klassischer Fall von unterstzuoberst, von dramatischem Stimmungswechsel in der Politik. Der Irak-Krieg hat begonnen, auch das vermeintlich bombenfest betonierte Verhältnis von Regierung und Opposition zu verwüsten. Der Kanzler rappelt sich auf aus schier aussichtsloser Depression, die CDU-Feldherrin führt ihre Truppen übermütig auf die Verliererstraße. Anfang März triumphierte die Union noch mit 49 gegen 27 Prozent über die Sozialdemokraten; mit Kriegsbeginn sackte sie auf 43 zu 34 Prozent. Und ihr eigener Sympathievorsprung vor Schröder - im November noch 44 zu 34 Punkten - kehrte sich abrupt in einen Rückstand von 34 gegen 41 Prozent um. Ein verdientes Schicksal. Opportunismus in der Politik wird bestraft. Immer. Es ist nur eine Frage der Zeit. In diesem Fall wurde ein Blitzurteil gefällt. Im Namen des Volkes.
Der Chamäleon-Kanzler
Der Kriegsopportunismus der deutschen Politik entfaltete sich unter den Augen der Jury als schillerndes Farbenspiel. Der Chamäleon-Kanzler, der sein aktuelles Politik-Muster der jeweiligen zeitgeschichtlichen Tapete anzupassen pflegt, färbte sich im Wahlkampf ganz auf Antikriegsstimmung ein. Das enorme realpolitische Risiko beginnt sich nun im Applaus des Publikums aufzulösen. Die Chamäleon-Kandidatin versuchte es ihm gleichzutun - mit einer fatalen Fehlkalkulation: Sie orientierte ihre Färbung nicht an der Tapete der Volksmeinung, sondern mit einem schrillen Komplementärkontrast an der Tönung des Kanzlers. Als ihre Entscheidung fiel, erschien Pro-Amerikanismus erfolgverheißend: Die USA werden den Krieg gewinnen, wir werden zu den Siegern gehören - ein frisches Ruhmesblatt im Geschichtsbuch Adenauers und Kohls. Unauslöschlich bis ans Ende der Tage wie die Westbindung nach dem Krieg und die Einführung des Euro. Welcher Irrtum!
Angela Merkel ist nicht regierungsfähig. So jedenfalls nicht
Denn wo die Fahne knattert, ist der Verstand in der Trompete. Trägt doch die Tapete der Volksmeinung auch das Muster der Unionsanhänger: 72 Prozent von ihnen halten den Krieg nicht für gerechtfertigt. Die Proteste des Papstes sind für sie keineswegs bloß Worte zum Sonntag. Angela Merkel hat ihren Kurs - "mit allen Folgen" stellte sie sich hinter das Kriegsultimatum aus Washington - von oben oktroyiert. Und damit alle Festlegungen des Wahlkampfs in den Wind geschlagen. "Das Entscheidungs- und Handlungsmonopol liegt bei den Vereinten Nationen. Alleingänge eines Landes ohne Konsultationen und ohne Mandat der internationalen Gemeinschaft sind damit nicht vereinbar", hatte Edmund Stoiber seinerzeit verkündet.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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Die Spaltung ist offenkundug
Nun ist die Spaltung der Union offenkundig. Stoiber, der im Herbst Landtagswahlen gewinnen will, grummelt. Saar-Premier Peter Müller setzt sich in schroffen Gegensatz zum außenpolitischen Sprecher Friedbert Pflüger. Für den einen ist "ein Krieg ohne UN-Mandat nicht zu billigen", also völkerrechtswidrig; der andere erklärt die Maus zum Waschbären und verkündet: "Das ist kein Angriffskrieg." Jeder Fernsehauftritt Pflügers kostet ein Prozent Stimmen.
Dazwischen schwankt nun die Vorsitzende, erkennbar geworden als Frau ohne Kompass, ohne Rückgrat und ohne analytische Kraft. Eine Ostdeutsche auf Überanpassungskurs an die vermeintlich ewig siegreichen Werte des Westens. Eine Machtmaschine, die doch nur die eigenen Ambitionen bewegt - und dem Kanzler per Transfusion frisches Vertrauen in die Adern pumpt. Angela Merkel - nicht regierungsfähig. So jedenfalls nicht.