Der Mann im Fernseher redete genauso ungehobelt wie vor 20 Jahren. "Was stellen Sie denn für komische Fragen?", maulte er. Dann fand er die Veranstaltung "allmählich lächerlich". Schließlich forderte er, "diesen Unsinn" zu unterbinden. Und am Ende wiederholte Gerhard Schröder sogar jenen legendären Satz, mit dem er in der Elefantenrunde nach der Bundestagswahl 2005 eine Kanzlerschaft Angela Merkels mithilfe der SPD ausgeschlossen hatte: "Wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen."
Gerhard Schröder: damals wie heute unbeirrbar
So lief die Vernehmung des Ex-Kanzlers im Nord-Stream-Untersuchungsausschuss, die ich vor einigen Tagen im Landtag von Schwerin verfolgte. Schröder, inzwischen 81, war aus Hannover per Video zugeschaltet. Das Déjà-vu-Erlebnis wurde noch verstärkt durch die Unbeirrbarkeit, mit der er seine Positionen verteidigte: damals, dass er die Wahl gewonnen habe, heute, dass er an Gasgeschäften mit dem Russland Wladimir Putins nichts Verwerfliches erkenne. Als ihn ein Parlamentarier fragte, ob das auch nach der Annexion der Krim und dem Krieg gegen die Ukraine noch gelte, blaffte Schröder zurück, er sei nicht hier, "um über die politischen Ansichten eines x-beliebigen Abgeordneten zu diskutieren".
Die Vernehmung Schröders dauerte knapp drei Stunden. Etwas Neues ergab sie nicht. Ich habe Schwerin in der Überzeugung verlassen, dass die Geschichte der deutschen Russlandpolitik im Allgemeinen und die von Gas und Krieg im Speziellen auserzählt ist. Viele erhellende Bücher sind geschrieben worden: von Markus Wehner und Reinhard Bingener über Schröders Verbindungen nach Moskau und seine Gaspolitik; von Steffen Dobbert und Ulrich Thiele über Nord Stream, Mecklenburg-Vorpommern und Manuela Schwesig; von Bastian Matteo Scianna über die gesamte Russlandpolitik seit der Wiedervereinigung; von Daniel Brössler über Olaf Scholz und den Krieg.
Doch einige Tage nach Schwerin bekam ich ein neues Buch in die Hände und muss einräumen: Ich habe mich geirrt. Ein bisschen was gibt’s doch noch zu erzählen.
Eigentlich ist das hier kein Platz, um Bücher anzupreisen, zumal unter dem Verdacht der Schleichwerbung, wenn die eine Autorin eine ehemalige stern-Reporterin ist und der andere Autor ein Kollege, mit dem ich in früherer Verwendung zu tun hatte, wenn auch sehr sporadisch. Aber Katja Gloger und Georg Mascolo haben mit "Das Versagen" ein Buch vorgelegt, das gleichermaßen von analytischer Tiefe und anekdotischer Fülle lebt, von Dokumenten aus Ministerien wie von Gesprächen mit sehr vielen Beteiligten (nur Schröder und Merkel verweigerten sich), vom Aufzeigen langer russischer Linien wie von überraschenden Details aus der deutschen Politik. Es ist fair geschrieben und kommt trotzdem zu einem klaren Urteil.
Was ich gelernt habe? Ich gebe zu, dass ich auf eine Frage lange keine Antwort hatte: Wenn es das Ziel von Putins Gaspolitik gewesen war, die Ukraine erpressbar und Deutschland abhängig zu machen – warum begann er den Krieg genau in dem Moment, als er mit der Fertigstellung von Nord Stream 2 exakt das erreicht hatte? Bei Gloger und Mascolo habe ich für mich eine Antwort gefunden: Die Frage ist schon falsch gestellt, weil sie bei Putin stets kühles, rationales Verhalten voraussetzt. Ich habe damit denselben Fehler begangen wie weite Teile der deutschen Politik über Jahrzehnte. Und das ist für einen Journalisten ja auch eine hilfreiche Lektion.