Zwischenruf Wen das Volk liebt

Nach 100 Tagen Großer Koalition hat die Gunst der Deutschen eine neue Symbolfigur gefunden - Friedrich Merz ist unten durch, Horst Seehofer obenauf. Aus stern Nr. 10/2006

Das Volk liebt den Querkopf, den Widerspenstigen, den Abtrünnigen. Den, der zwar drinnen mit dem Chor singt, aber wenigstens draußen sein eigenes Lied anstimmt - ein garstiges Lied. So berechenbar unberechenbar wie das Volk selbst. Das ist beständig in seiner Liebe zum Unangepassten. Aber treu ist es nicht. Das Volk kann brutal sein, herzlos, eiskalt. Wenn der alte, der eben noch heiß geliebte Dissonante zu nerven beginnt, die Stimmung versaut, ist er weg. Hoppla! Und ein neuer erkoren. Diese Scheidung auf Deutsch verrät viel über die Moden der Zeit. Und über die Moden der Deutschen.

Als Maßband jener Moden mögen die geschätzten Beliebtheitsskalen der Politik dienen. Sie weisen präzise aus: Nach 100 Tagen Großer Koalition haben sich die Deutschen geschieden. Und neu vermählt. Die Rolle des geliebten Störenfrieds ist anders besetzt. Friedrich Merz wurde verstoßen. Horst Seehofer beglückt. In einer anderen Zeit, einer sehr fernen - man erinnert sich ihrer nur noch mit Grausen, denn die schrecklichste Wahlschlacht war gerade geschlagen -, im Oktober letzten Jahres also, da kam der Modemann der Saison, der schneidend scharfe Radikalreformer, auf dem Laufsteg des "Spiegel" noch gleich nach dem Bundespräsidenten auf Rang zwei, neben Angela Merkel. Drei Monate später war Merz verschwunden, herausgeschubst aus der Riege jener 20 Politiker, denen das Volk "eine wichtige Rolle" beimaß.

Horst Seehofer, der christsoziale Radikalversöhner, Sturmtruppführer des Sozialen, Geißel der Kopfprämien-Reformer, mit einem Wort: der Anti-Merz, rangierte dagegen Ende Januar beim Politbarometer des ZDF auf Platz eins, vor der bestaunten Kanzlerin. Drei Monate zuvor hatte er unter den zehn Favoriten dieses Schaulaufens noch gar keine Startnummer.

Vogelgrippe? Von wegen. Die gab's da noch nicht hierzulande. Wohl aber einen rasanten Modewechsel in der Politik. Merz hatte im November noch einmal garstig gesungen ("Diese Koalition bleibt schon jetzt hinter dem zurück, was notwendig ist") und damit gegen den Wahlspruch auf seiner eigenen Homepage verstoßen: "Nur wer sich ändert, wird bestehen." Damit fiel er aus der Zeit. Und kippte aus den Herzen. Horst Seehofer aber, der ganz anders rebellierte, nicht rechts nämlich, sondern links, der nach der Kopfprämie nun das Rentenalter 67 madig machte und dafür in den eigenen Reihen beidhändig gewürgt wurde, zog zur Belohnung ins leere Volkshaus der Liebe ein. Getreu seinem Wahlspruch: "Politiker sind für die Menschen da, nicht die Menschen für die Politiker." Den nimmt er so ernst, dass er immer da ist, wo er die Menschen vermutet. Und die sind im Moment an nichts weniger interessiert als an neoliberalem Reformfieber und an nichts mehr als an geschmeidiger Sozialarbeit. 100 Tage Große Koalition sind eben 100 Tage Versöhnlertum und 100 Tage ohne Hysterie.

Merz und Seehofer sind die Rampensäue des Richtungskampfes. So ähnlich und doch so verschieden. Verschieden nur im Grundsätzlichen, ähnlich aber gleich in mehrfacher Hinsicht. Das fängt beim Wahlergebnis an: Merz holte im heimischen Hochsauerland mit 57,7 Prozent das zweitbeste Erststimmenergebnis der CDU, Seehofer in Ingolstadt mit 65,9 Prozent sogar das zweitbeste Direktwahlergebnis der Republik - das Volk liebt eben die Unangepassten. Das setzt sich fort bei ihrem beständigen Spiel mit dem Feuer des Widerspruchs. Und das endet mit dem Neid, ja dem Hass der Kumpane.

Der Radikalreformer kippte aus den Herzen, und der Radikalversöhner zog ein ins Volkshaus der Liebe.

So kantig, so selbstbewusst, so unzähmbar die beiden auch sind, den Aufstieg nach ganz oben - und diese Leidenschaft treibt beide - sucht man ihnen zu verbauen, in der größten aller denkbaren Koalitionen. Die sind gefährliche Beispiele, die dürfen nicht auch noch belohnt werden, raunt es parteiübergreifend.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Also wird Seehofer im CSU-Vorstand rituell gedemütigt, kaum ist irgendwo zu lesen, er wolle den gestrauchelten Edmund Stoiber als CSU-Chef ablösen. Da sind sich alle Diadochen instinktiv einig, denn sie wissen: Er wäre besser als sie. In Berlin steigt Seehofer nicht weiter auf, das ist gewiss, und als Agrarminister suchte man ihn unmöglich zu machen - zuständig für Viecher und Kräuter. Dabei könnte es keinen erfolgreicheren und für die SPD gefährlicheren Ministerpräsidenten in Bayern geben als ihn.

Und Merz? Dass er politisch kaltgestellt ist und Angela Merkels Regierungserklärung in der viertletzten Reihe des Bundestages verfolgen musste, ist - jenseits aller Kabalen - ein Skandal in einem Land, das so wenige vergleichbare Figuren für die Politik gewinnen kann. Er wäre nicht nur ein glänzender Finanz-, sondern auch ein umtriebiger Wirtschaftsminister. Oder ein Ministerpräsident allerersten Ranges. Den Übertritt zur FDP verbauen ihm seine katholische Prägung und der Machtinstinkt Guido Westerwelles. Bleibt nur eine Hoffnung: Das Volk ist launisch, und die Moden wechseln. Es wird wieder Merz.

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Hans-Ulrich Jörges