Zwischenruf Wenn die Macht schmatzt

Die Große Koalition erzwingt, was es eigentlich nicht geben soll: eine Koalition in der Opposition. Und die braucht eine Grundgesetzänderung, die ihr Biss gibt. Aus stern Nr. 51/2005

Opposition ist Mist. Pflegte Franz Müntefering zu sagen, als er sich noch vor Opposition fürchtete. In der Opposition gibt es keine Koalition. Sagt der Oppositionspolitiker in normalen Zeiten, in denen er die Mit-Oppositionellen, der Schlacht am kalten Büfett ähnlich, noch härter anrempelt als die Machthaber. Doch Zeiten einer Großen Koalition sind alles andere als normal. Dann ist Opposition, nach dem Münte-Axiom, am mistigsten. Der Lehrsatz des Oppositionspolitikers kann rasch ganz falsch werden: Ohne Koalition in der Opposition gibt es gar keine Opposition. Und weil das so ist, muss das Schicksal der Opposition dem Wähler, der die Große Koalition ja im Regelfall gar nicht wollte, geradezu Herzenssache sein.

Liberale, Linke und Grüne stellen zusammen 166 Abgeordnete im Bundestag, gerade mal 27 Prozent aller Mandate. Das aber zwingt sie förmlich zusammen, denn das Grundgesetz ist auf so gemütliche Mehrheitsverhältnisse für Regierende nicht eingerichtet. Ein Viertel der Abgeordneten muss aufgeboten werden, um einen Untersuchungsausschuss durchzusetzen, der die düsteren Tiefengewässer der Macht ausleuchten darf. Ein Viertel aller Abgeordneten ist auch Voraussetzung für die Einsetzung einer Enquetekommission, und nur ein Viertel der Mitglieder eines federführenden Parlamentsausschusses kann eine öffentliche Anhörung erreichen.

Die schärfste Waffe der Opposition aber, eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht, erfordert die Zustimmung von mindestens einem Drittel aller Abgeordneten. Klageberechtigt sind darüber hinaus nur die Bundesregierung oder eine Landesregierung - die aber werden alle beherrscht von den Parteien der Großen Koalition. Stumpf ist das Schwert also, und die Robenträger in Karlsruhe sind einer zentralen Kontrollaufgabe beraubt.

Damit der großkoalitionären Gnade Flügel wachsen, können ein paar Rippenstöße nicht schaden - auch vom Präsidenten

Als die Große Koalition, noch nicht im Amt und schon machtsatt schmatzend, gleich einen verfassungswidrigen Haushalt für 2006 ausrief, erwachten FDP, Linkspartei und Grüne abrupt in ihrer neuen Realität. Selbst vereint, so mussten sie feststellen, reichten die Kräfte nicht für den Gang nach Karlsruhe, und erst nach der stillen Drohung des Bundespräsidenten, dass die Ernennung erklärter Verfassungsbrecher von ihm nicht erwartet werden dürfe, bequemten die Schwarz-Roten sich wenigstens zu einer juristischen Camouflage ihrer Zumutung.

Die FDP-Fraktion beschloss daraufhin einen Gesetzentwurf, der das Quorum für die Verfassungsklage von einem Drittel auf ein Viertel der Bundestagsabgeordneten senken soll. Das aber geht nur per Grundgesetzänderung mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat - ist also von der demokratischen Reife, um nicht zu sagen: von der Gnade der Großkoalitionäre abhängig. Es ist die erste Nagelprobe dafür, wie Union und SPD mit den kleinen Parteien umzugehen - oder umzuspringen - gedenken. Und die erste Herausforderung für eine hoffentlich wache Gesellschaft: Damit der großkoalitionären Gnade Flügel wachsen, können ein paar derbe Rippenstöße nicht schaden - etwas sanfter vielleicht auch vom Bundespräsidenten.

Die Vorsitzenden der drei Oppositionsparteien, schlägt Oskar Lafontaine vor, sollen nun in einem gemeinsamen Brief an Angela Merkel und Matthias Platzeck für die Verfassungsänderung werben. Das wäre die einstweilen spektakulärste Koalition der Gelben, Roten und Grünen, die sich noch im Wahlkampf geprügelt hatten wie Straßenjungen. Seit dem Wahltag aber sind sie - im Parlament wegen ihres erbärmlichen Redezeitanteils erbarmungswürdige Underdogs - in mitunter fast zärtlicher Gemeinschaft zu erleben. Guido Westerwelle versteht sich tadellos mit Gregor Gysi und, seit der rüpelnde Joschka Fischer abgetreten ist, auch mit Renate Künast. Lafontaine gesteht gar: "Das grüne Programm kann ich im Grundsatz unterschreiben." Der linke Oskar ist auf Hilfe angewiesen, um für die PDS-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung an der Staatskasse Gleichbehandlung mit den anderen Parteistiftungen zu erreichen. Not sucht Freunde.

Intelligente Macht auch. Wer die Große Koalition auf Sicht hinter sich lassen will, der braucht unter den Mehrheitsverhältnissen der Berliner Republik eher zwei als nur einen Partner aus den Reihen der Opposition. Die Kleinen begreifen das und üben die neue Beweglichkeit schon miteinander. Wer zudem nicht will, dass sich Opposition außerparlamentarisch formiert - und das hieße heute rechts- statt linksradikal wie 1968 bei der ersten Großen Koalition -, der gewährt ihr Raum und Respekt im Parlament. Die FDP war damals allein zu schwach, um den Protest aufzunehmen. Die drei Kleinen sind dafür heute weitaus besser in Position. Zumal die Liberalen auch einen Zipfel Macht in der Hand halten: Wenn sie in ihren Länderkoalitionen mauern, wird die schwarz-rote Mehrheit im Bundesrat prekär. Und dann ist Opposition richtig Mist.

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Hans-Ulrich Jörges