Die EU hat ihre erste Vereinbarung zur gemeinsamen Flüchtlingspolitik getroffen: den 17-Punkte-Plan. Also rücken die Staatschefs endlich zusammen?
Es war dringend notwendig, dass sich auf Initiative von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Staaten der so genannten Balkanroute, einschließlich Deutschlands und Österreichs, getroffen haben. Das unkoordinierte durchleiten von Flüchtlingen entlang dieser Strecke soll beendet werden. Nun heißt es: handeln. – Im Übrigen ist Präsident Juncker einer der bedeutendsten Verbündeten Deutschlands in der Flüchtlingsfrage.
Was heißt das konkret?
Die Länder, natürlich auch Deutschland, müssen beispielsweise endlich ihren Verpflichtungen gegenüber dem UN-Flüchtlingshilfswerk nachkommen, um die Situation in den großen Flüchtlingslagern rund um Syrien zu verbessern. Sie müssen dafür sorgen, dass das Zugesagte auch eingehalten wird. Ich weiß nicht, wieso das bislang nicht geschehen ist. Das ist ein Skandal. Wäre die UN nicht gezwungen gewesen, ihre Lebensmittelversorgung drastisch zu kürzen, hätten wir wahrscheinlich hunderttausende Flüchtlinge in Europa weniger.
Vieles aus dem 17-Punkte-Plan wird sich nicht über Nacht realisieren lassen: Hat sich die Politik erst mal nur Zeit gekauft?
Wir haben keine Zeit mehr für taktische Spielereien. Das ist vorbei! Es geht um tausende Menschen, die aktuell auf dem Weg nach Europa sind. Es ist unsere Pflicht, als EU das gemeinsam zu managen. Nur so lässt sich die Funktionsfähigkeit einzelner Mitgliedsländer erhalten. Wir kommen ansonsten in die schwierigste Situation seit 1945.
Sie sagen: "Wir schaffen das nicht"?
Ich sehe zumindest die Gefahr, wenn das bisherige Tempo an Schnelligkeit und Zustrom fortbesteht, und wenn wir die Voraussetzungen für eine geordnete Registrierung und Unterbringung nicht schaffen. Das hat Auswirkung auf alle Mitgliedsländer der Europäischen Union. Ohne europäische Solidarität und gemeinsames Handeln zerbricht die EU.
Vor allem die Türkei steigt plötzlich wieder zu einem wichtigen Partner auf, weil dort große Lager sind. Wird die EU erpresst?
Viele mögen sagen: "Der Erdogan ist ein furchtbarer Politiker, ich mag den nicht." Aber darum geht es nicht. Keine Taktiererei mehr. Wir haben in dieser Frage gemeinsame Interessen. Die Türkei hat das Interesse, mit zwei Millionen Flüchtlingen im Land zu bestehen. Natürlich müssen wir dann auch eine Perspektive für einen EU-Beitritt diskutieren. Es kann nicht sein, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel sich in dieser Frage quer stellt. Wenn ich einen historischen Vergleich wagen darf: die Entspannungspolitik. Die Sowjetunion hatte 1968 den Prager Frühling niedergewalzt. Trotzdem haben wir 1969 mit ihr über konkrete Verbesserungen für die Menschen verhandelt.
Zeigt sich an der Flüchtlingskrise, dass Europa nur eine Wirtschafts-, aber keine Wertegemeinschaft ist?
Die Wertevorstellungen der einzelnen EU-Mitglieder liegen weit auseinander. Das haben wir in der Vergangenheit immer wieder überbrücken können. Jetzt, in der Flüchtlingskrise, kommen die nationalen Egoismen stärker zum Vorschein. Leider. Sie zeigt aber auch, dass sich die Probleme nicht mehr nationalstaatlich lösen lassen, sondern nur gemeinsam als EU. Diese Einsicht muss nun bei allen ankommen.