Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoglu "Die türkische Bevölkerung will einen Wechsel" – Erdogans gefährlichster Gegner im Interview

Ekrem Imamoglu und Recep Tayyip Erdoğan
© DPA
Bis 2018 waren Sie noch Bürgermeister eines Istanbuler Bezirks, jetzt gelten Sie als der Hoffnungsträger in der Türkei überhaupt, liegen in Umfragen vor Präsident Erdogan. Wird Ihnen eigentlich manchmal schwindlig bei alldem, was die Menschen Ihnen zutrauen?


Nein, ich bin ein ruhiger Mensch und ich weiß, wo ich stehe. Ich bin in Istanbul. Ich bin der Oberbürgermeister und mir wird nicht schwindelig. Ich bin fokussiert auf meine Aufgabe. Ich arbeite für Istanbul und ich bin wirklich bei mir selbst. 


Was braucht diese Stadt jetzt, was wollen Sie ihr als Bürgermeister geben?


Ganz klar, wir brauchen eine sehr mutige Demokratie. Und ich möchte der demokratischste Bürgermeister sein, den diese Stadt je hatte – der demokratischste Bürger der ganzen Welt. 




Haben Sie sich persönlich zuletzt in der Türkei unfrei gefühlt?


Nein, ich fühle mich komplett frei. Wir sind als Türkei ein Land, das sich seine Freiheit erkämpft. Natürlich engt uns vieles ein. Diese Probleme machen unser Leben schwer. Das kann überall passieren. Zeitwillig gibt es hier auch große Probleme. Das hat auch Europa in manchen Zeiten erlebt. Das ist schon mal passiert – und jetzt leben wir wieder in so einer Zeit. Das wollen wir gemeinsam überwinden. Wichtig ist, dass wir ein Fundament für Demokratie und Freiheit haben. Das muss reifen. Dafür müssen wir kämpfen. Ohne Kampf geht es nicht.


Haben Sie jemals seit Ihrem Wahlsieg mit Präsident Erdogan gesprochen?


Das haben Sie vielleicht auch in den Medien gesehen. Wir waren mit 30 Bürgermeistern zusammen in Ankara. Abgesehen von zufälligen Begegnungen haben wir uns noch nie getroffen. Ich versuche, von ihm einen Termin zu bekommen. Das wäre zum Nutzen von Istanbul und der ganzen Türkei. Ich hoffe, dass wir uns sehen, dass wir uns zur Entwicklung Istanbuls und der Türkei treffen können. Ich bin niemand, der seine Zeit vergeuden will. Im Gegenteil: Ich bin der Bürgermeister von Istanbul. Ich will über wichtige Themen mit ihm reden. Ich bin der Bürgermeister der größten Stadt der Türkei mit 16 Millionen Einwohnern. Und ich hoffe, dass ich mich mit dem Präsidenten treffen werde.


Glauben Sie, Erdogan fürchtet Sie?


Wirke ich auf Sie beängstigend? Ich bin doch ein lieber Mensch. Wer sich mit mir unterhält, wird das merken. Der Präsident könnte diese Erfahrung auch machen. Warum er mir keinen Termin gibt, das sollten Sie vielleicht besser ihn selbst fragen.


Sie haben selbst gespürt, zu welchen Mitteln der Präsident greift, wenn ihm ein Wahlergebnis nicht passt. Glauben Sie, in der Türkei ist ein demokratischer Machtwechsel überhaupt noch möglich?


Ganz sicher. Ich denke, dass die Regierung bei der nächsten Wahl wechseln wird. Die Bevölkerung will einen Wechsel. Wir befinden uns in einer schweren Zeit. Es werden wirklich Beschlüsse gefasst, ohne dass man die Bevölkerung mit einbezieht. Es fehlt an Respekt für die andere Seite. Bei den nächsten Wahlen wird sich das ändern und das werden wir auch schaffen.




Wie sollte Europa mit Erdogan umgehen? Wünschen Sie sich manchmal mehr Härte?


Wir wollen Dialog auf höchster Ebene. Das ist unser Wunsch. Unabhängig von der türkischen Regierung: Die Türkei hat ein Recht auf Dialog. Die Türkei sollte positiv auf Europa zugehen und das muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Was in Europa passiert, betrifft die Türkei, und andersherum. Das hat sich ineinander verwoben. Und ich wünschte, wir hätten eine gute Beziehung zwischen der Türkei und Europa – und natürlich auch zu anderen Ländern. Unsere Demokratie und unsere Ziele würden davon profitieren.


Sollte sich etwa Deutschland mehr für die Demokratie und Freiheit in der Türkei einsetzen?
Natürlich kann das angesprochen werden. Wenn es in Deutschland eine falsche Demokratie geben würde, würde ein befreundetes Land das auch zur Sprache bringen. Das ist keine Intervention, das muss zur Sprache kommen.


Würden Sie, mal ganz fiktiv gefragt, zum Staatspräsidenten gewählt werden – würden Sie in Erdogans Palast einziehen oder würden Sie sich einen anderen Sitz suchen?


Das ist eine der Fragen, mit denen ich häufig konfrontiert werde. Jeder weiß, dass ich die aktuelle Regierung in der Türkei ablehne. Das Präsidialsystem stärkt die Demokratie nicht. Und diese großen Bauten engen uns ein. Ich werde meine Energie darauf richten, dass wir stark sind im Wissen, in der Bildung, bei der Entwicklung, der Rechtsstaatlichkeit – und nicht bei irgendwelchen Gebäuden. Das ist meine Idee. Aber das entscheidet der Präsident – oder der nächste Präsident. Der Palast ist jetzt gebaut. Und wir müssen schauen, wie wir es am besten nutzen können. Aber: Dieses Gebäude braucht eine bessere Verwendung.
Bis 2018 war Ekrem İmamoglu noch Bürgermeister eines einzelnen Istanbuler Bezirks – jetzt ist er Oberbürgermeister der Metropole und liegt in Umfragen vor Präsident Recep Tayyip Erdogan. stern-Reporter Raphael Geiger trifft den Politiker zum Interview.