Jetzt kommt der Moment, den jeder Fernfahrer fürchtet: der Stillstand. Am Überseehafen Rostock klemmen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Die Atmosphäre ist etwa so entspannt wie in New York zur Rushhour. Über den Pier radle ich zwischen Lastwagen, Wohnwagen, Autos und Beleuchtungstürmen zum Kai 67. Von hier aus wird mich eine Fähre ins dänische Gedser bringen. Schon rolle ich ins Tiefdeck hinein. In der langen, dunklen Röhre riecht es nach Benzin. Der Fahrer einer schwarzen Limousine hupt mich aus dem Weg, ein Fähr-Mitarbeiter winkt mich in einen düsteren Winkel. Ich parke mein Rad und bin für die nächsten Stunden ferngesteuert.
Seit zehn Tagen habe nur ich das Tempo bestimmt, mich gemächlich durch die leise Landschaft bewegt: auf dem Radfernweg von Berlin nach Kopenhagen. Meine Sinne sind verwöhnt - mit Bildern von einsamen Seen, platten Mohnwiesen, von Alleen, die Spalier stehen, und historischen kleinen Marktplätzen mit Erdbeerständen. Im grummelnden Bauch der Fähre fällt mir die Orientierung schwer, überall Lastwagen, Busse und Autos, das fahle Licht der Neonröhren, ich suche nach dem Ausgang zum Deck. "Auch nach Kopenhagen unterwegs?" Eine durchtrainierte, sonnengebräunte Frau um die 50 stellt neben mir ihr Trekkingrad ab. Ich nicke, wir gehen an Deck und bestellen uns - Fernfahrerinnen, die wir sind - zusammen Pommes frites.
Pauschal in die Pedale treten
"Ich brauche zweimal im Jahr eine große Radtour. Sonst fehlt mir was", erklärt mir meine neue Bekannte, während die Fähre ablegt. Im Gegensatz zu mir, die ich nur ein paar Etappen radle, hat sich Barbara, Grundschullehrerin aus der Nähe von Würzburg, die gesamte Strecke vorgenommen. Zwölf Tage, pauschal beim Reiseveranstalter "Mecklenburger Radtour" gebucht - Gepäcktransport, Pannenhilfe und gehobene Hotels inklusive. "Aber ich fahre ohne Guide. In einem Pulk zu radeln wäre für mich der blanke Horror." Durch das Fenster der Fähre sehen wir die Leuchttürme von Warnemünde am Horizont verschwinden.
Gefunden in
Geo Saison, Heft Mai/2009, ab 22. April am Kiosk, 5 Euro, www.geo.de/GEO/reisen
630 Fahrradkilometer und zwei Fährfahrten liegen zwischen der deutschen und dänischen Hauptstadt: eine der Traumstrecken Europas. Das Radfernwegenetz des Kontinents wächst stetig. Immer mehr Routen werden ausgebaut und beschildert. Mehr als 2,5 Millionen Deutsche haben in den vergangenen drei Jahren eine längere Radreise unternommen. Galt der Fernradler noch vor zehn Jahren als Eigenbrötler, wird er nun umworben. Entlang der deutschen Radfernwege gibt es fast 5000 Unterkünfte, die der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) als fahrradfreundliche "Bett & Bike"-Herbergen zertifiziert hat. Vor vierzehn Jahren waren es gerade einmal 216.
Entschleunigung im Sattel
Was reizt so viele Radler an großen Distanzen? "Man kann entschleunigen und sich aus der globalen Hetze ausklinken", meint Felizitas Romeiß-Stracke, Tourismus-Expertin an der Technischen Universität München. Die Fahrt ist nicht mehr das alleinige Mittel zum Zweck, den Urlaubsort zu erreichen: "Die Fortbewegung, das Kardinalmerkmal der klassischen Reise zu Fuß und per Pferd, wird zum Wesentlichen", betont der Autor Gerhard Fitzthum, Experte für Reisekultur und sanfte Mobilität. Ähnlich wie der moderne Pilger vollzieht der Radurlauber einen Sprung in die Vergangenheit, eine "Rückkehr zu den Prinzipien des vorindustriellen Reisens. Wenn man eine Landschaft mit der Langsamkeit des Langstreckenradlers durchmesse, könne sich die Erinnerung an das Unterwegssein nicht verwischen." Ebenso sieht der Wiener Kulturwissenschaftler Roland Girtler im Fernradler einen "Nachfahren der alten Herrenreiter."
Dann schon lieber Easy Rider: Angenehm entschleunigt beginnt auch meine Tour. Nördlich von Neustrelitz, nahe der Mecklenburgischen Seenplatte, setze ich mich zum ersten Mal in den Sattel - etwa bei Kilometer 150 des Fernwegs nach Kopenhagen. Zunächst radle ich durch Wiesen, vorbei an Flieder und Grillen, die lautstark in die Landschaft zirpen. Die Route führt in einen Wald, der zum Müritz-Nationalpark gehört und zunehmend sich selbst überlassen wird. Hier jagen noch Fischadler, deren Horste ich zu erkennen glaube. Überall wuchern Farne und Moose, winden sich Wurzeln abgestorbener Baumstämme. Durch das dichte Geäst von Kiefern und Laubbäumen fällt wenig Licht. Es ist kühl und düster in diesem Wald, keine Menschenseele -begegnet mir. Das mulmige Hänsel-und-Gretel-Gefühl verfliegt, als hinter einer Biegung die Müritz auftaucht. Auf einem Hügel am Nordufer erhebt sich die mittelalterliche Kreisstadt Waren. Ich holpere eine Kopfsteinpflastergasse hinauf zum Marktplatz und genieße mit Blick auf das alte Rathaus einen Cappuccino.
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Dass viele Radfernrouten in alte Fachwerkstädtchen führen, ist kein Zufall, betont Philosoph Fitzthum. Viele vorindustrielle Handelszentren entstanden an Flüssen, Seen und Meeresküsten: den früheren Hauptverkehrsadern. Auch die Radfernwege verlaufen oft an den Ufern von Gewässern - im Gegensatz zu den - Autotrassen, die abseits der kurvenreichen Flusstäler und Küsten liegen. Entsprechend bewegt sich der Fernradler auf traditionsreichen Routen, so Fitzthum. Im Mittelpunkt der Radreise stehen wieder alte Kulturlandschaften, "die unter der Alleinherrschaft des Autos aus dem Blick geraten waren".
So auch auf der Fernroute von Berlin nach Kopenhagen - immer wieder geht es am Wasser entlang. Schlösser, Burgen, Herrenhäuser, Klöster und alte Dörfer liegen am Wegesrand. Nachdem ich in Dänemark die Fähre verlassen habe, erwartet mich eine etwa 20 Kilometer lange Küstenetappe: Zwischen Nykøbing und Stubbekøbing an der Ostküste der Insel Falster, meilenweit vom Autoverkehr entfernt. An diesem leicht windigen Nachmittag habe ich die weiten Strände fast für mich allein. Auf einer Düne setze ich mich in den warmen Sand, schaue über das Wasser. Schließlich erreiche ich Hesnæs: Netze und Reusen liegen vor alten Reetdachhäusern - ein echtes Fischerdorf, wie es sie an deutschen Küsten vielleicht vor Jahrzehnten noch gab.
Wehmütig sehe ich auf meiner Karte, dass ich schon über die Hälfte der Küstenstrecke zurückgelegt habe. Während ich nur wenige Meter vom leicht aufgewühlten Wasser entfernt auf einem Damm entlangstrampele, frage ich mich, ob ich je eine so schöne Küstentour gefahren bin. Die Glückszutaten hier sind so einfach wie effektiv: das Meer, das zuverlässig anrauscht, der salzige Wind, der Sound der kreischenden Möwen. Es fängt an zu nieseln. Macht nichts. Ich schalte einen Gang herunter und radle weiter - so langsam ich kann.
Weitere Infos | |
Etappen: Berlin - Fürstenberg - Neustrelitz - Waren - Krakow - Güstrow - Rostock - Nykøbing - Insel Møn - Køge - Kopenhagen | |
Veranstalter: Die Mecklenburger Radtour, 12-tägige Tour inklusive Fährfahrten, Kartenmaterial und Routenbeschreibung, | Gepäcktransfer, Unterbringung in Mittelklassehotels 1215 Euro pro Person im Doppelzimmer mit Frühstück; Leihrad mit Gepäcktasche: 70 Euro, Tel. 03831/306 60, www.mecklenburger-radtour.de |
Essen und Trinken: Hotel Weit Meer & Kulturkneipe FloMaLa, einfaches Hotel mit schöner Seeterrasse, Waren (Müritz), Am Seeufer 54, Tel. 03991/633054, www.hotel-weitmeer.de, Doppelzimmer mit Frühstück ab 92 Euro. Gutshotel Groß Breesen, das erste Bücherhotel Deutschlands, Groß Breesen bei Zehna, Tel. 038458/500, www.gutshotel.de, Doppelzimmer mit Frühstück 98 Euro | |
Anschauen: Heinrich-Schliemann-Museum, Ankershagen, Lindenallee 1, Tel. 039921/3252, www.schliemann-museum.de, Müritz -Nationalpark, Federow, Tel. 03991/668849, www.-nationalpark-service.de | |
Infos für Selbstfahrer:www.bike-berlin-copenhagen.com |