Gegen sechs an einem Montagabend hat sich auf dem schmalen Uferstück eine Schlange gebildet von Menschen, die eben in ihrer Bürokleidung angekommen sind, die jetzt in Badehose oder Bikini auf Kieseln stehen, in der Hand einen bunten Beutel, so groß wie ein Kopfkissen.
Auch ich halte einen Beutel, und ich mache es so wie die anderen: werfe ihn ins Wasser und hechte hinterher. Und schon packt mich der Strom, zieht mich rein und raus. Ich bin im Rhein, mitten im Rhein, und der Rhein ist klar, grünblau, und er ist, oh, recht frisch. Ich erschauere – vor Freude und in Erwartung der süßen Gefahr, die vor mir liegt.
Eine süße Gefahr
So wurde mir das Rheinschwimmen angekündigt. Süß, weil man sich treiben lässt, aller Fesseln ledig. Gefahr, weil der Rhein voller Tücken stecken kann. Doch so groß kann die Gefahr nicht sein, wenn täglich viele, viele Basler hineinspringen. An manchen Abenden sieht es von der Promenade aus betrachtet so aus, als führe der Strom eine riesige vielfarbige Ladung mit sich, die von einem Schiff gefallen ist. Man kann nach Basel reisen, um sich an der Kunst zu berauschen, die in den teils spektakulären Museen ausgestellt ist.
Man kann die fast puppenstubenhafte Schönheit der Altstadt genießen, die Bürgerhäuser, die wie Kuchenstücke aneinandergefügt sind. Man kann die Architektur der Neubauten bestaunen, die Werke des Büros Herzog & de Meuron, dessen Gründer beide Basler sind, weltweit bekannt etwa als Schöpfer der Hamburger Elbphilharmonie. Das Tollste aber, was sich in den warmen Monaten in Basel unternehmen lässt, ist, in den Bach zu steigen, wie die Bürger ihren Rhein nennen.

Er ist ein junger Fluss, hier noch weitgehend verschont von der Schifffahrt und der Industrie. Dementsprechend sauber ist er, sein Wasser habe Trinkqualität, heißt es, was ich bestätigen kann, als ich mich an der ersten höheren Welle verschlucke.
Nie zu nah an die Pfeiler ranschwimmen
Neben mir schwimmt Andreas Ruby, Leiter des Schweizerischen Architektur- Museums, Zugezogener, Rhein-Süchtiger. "Ich mache es, sooft ich kann", sagt er. Morgens zum Aufwachen: "Die Stunde, an der man der Stadt guten Tag sagt." Mittags in der Pause: "In der Hitze wie neugeboren." Abends nach der Arbeit: "Im Wasser kommt man ins Gespräch", sagt Ruby. "So wie die Briten übers Wetter reden, reden die Basler über den Rhein."
Wir schwimmen weiter, vorbei am Roche- Turm, Hauptsitz des Pharma-Konzerns, erdacht von – Überraschung! – Herzog & de Meuron, 178 Meter, gezackt wie eine Säge. Eine nahezu babylonische Provokation in einer Stadt, die ihren stattlichen Reichtum sonst geschickt verberge, wie Ruby sagt, deren Millionäre eher Kleinwagen führen als einen Bentley.
Dazu passt, dass im Wasser viele Unterschiede, auch die sozialen, verschwinden: Denn der Konzernboss und der Facharbeiter sehen in der Badehose gleich aus. Wenn etwa im Juni die Superreichen aus aller Welt herbeiströmen, um ihr vieles Geld auf der Kunstmesse Art Basel rauszuhauen, und wenn diese Superreichen zum Vergnügen in den Rhein steigen, dann sind auch sie nur Köpfe, die aus dem Wasser ragen, die von den Wellen davongetragen werden, mehr nicht.
Wir nähern uns dem Zentrum, passieren die hohe Wettsteinbrücke. Nie zu nah an die Pfeiler ranschwimmen, habe ich vorher gelernt, hier lauern Strudel, hatte mir Selina Speck von der Schweizerischen Lebensrettungs- Gesellschaft gesagt: "Die ziehen dich runter."
Was ist ein Wickelfisch?
Speck hatte mir mehrere Verhaltensregeln mit auf den Weg gegeben: Stets schön auf der rechten Seite bleiben, in der Mitte fahren die Schiffe, und die können nicht ausweichen und nicht bremsen. Den Kleiderbeutel, den ich mit mir führe, in Basel "Wickelfisch" genannt, weil man ihn zum wasserdichten Verschließen fünf bis sieben Mal eindrehen muss, bitte nicht am Körper festmachen: "Wenn der Tragegurt an einer Boje hängen bleibt, zieht es dich nach unten." Praktischerweise legen viele Rheinschwimmer den Oberkörper auf ihren Wickelfisch und treiben so dahin. Jeder soll auf sich selbst und seine Mitschwimmer achten, denn es gibt keine offizielle Badeaufsicht. In der Schweiz ist das Schwimmen in öffentlichen Gewässern grundsätzlich erlaubt. "Doch man schwimmt auf eigene Gefahr", sagte Speck. Das sei wie in den Bergen.
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Selina Speck erzählte, sie sei als Schülerin vom Rhein-Virus befallen worden: "Du triffst dich mit deinen Freundinnen am Ufer, grillst, trinkst, hörst Musik, und irgendwann gehst du ins Wasser." Ihre Eltern hätten das lange skeptisch verfolgt, dem Vater sei alles unter 30 Grad zu kalt, und die Mutter sei ihr erst vor zwei Jahren in den Fluss gefolgt. "Ihre Begeisterung zu erleben, war toll. Auch sie ist sofort von der Magie gepackt worden."
Hinter der Brücke taucht links die Altstadt auf, Großbasel genannt, weit oben auf dem Felsen das Münster mit seinen roten Sandsteinen und den bunten Dachziegeln. Wie hatte die Lebensretterin Speck gesagt? "Rheinschwimmen ist wie eine Stadtführung aus einem neuen Blickwinkel." Man schaut von ganz unten nach ganz oben, und alles scheint zum Greifen nah.

"Versuch' das mal im Hudson!"
An dieser Stelle ist – wie an drei weiteren Punkten entlang der Strecke – ein Stahlseil über den Rhein gespannt, wie bei einer Seilbahnrutsche auf dem Kinderspielplatz. Am Seil hängt ein Holzboot, eine Fähre, die zwischen den Ufern verkehrt. Die Überfahrt kostet 1,60 Franken. Das Boot wird angetrieben von der Strömung, da es aber am Seil hängt, bewegt es sich seitwärts. Der Fährmann muss nur das Ruder verstellen.
Einer dieser Fährmänner ist Pan Thurneysen. Wir haben ihn kennengelernt, als wir ein paar Stunden zuvor mit seinem Boot, der Münster-Fähre, nach Kleinbasel übergesetzt sind, zur rechten Uferseite. An Bord waren Touristen aus Amerika, die beim Anblick der Rheinschwimmer ausriefen: "Versuch' das mal im Hudson!"
Thurneysen ist der Sohn eines Fährmanns, der selbst 35 Jahre über den Fluss gependelt war. Der Rhein ist Familiensache. Wozu gibt es diese Fähren? Es finden sich doch genügend Brücken in Basel. "Am Abend kommen die Stadtbewohner", sagt Thurneysen, "die auf dem Wasser ein Bier trinken wollen und beim Hin- und Hersetzen den Tag ausklingen lassen." Wer am, auf und im Rhein lebt, entwickelt eine Haltung, die Thurneysen so zusammenfasst: "Man hat den Fluss nicht unter Kontrolle; man kann nicht gegen ihn ankämpfen. Hier kommen die Dinge auf einen zu."
Geh' nicht allein baden!
Im Wasser schwimmen wir nun von der Mittleren zur Johanniterbrücke. Kinder springen von den Stufen in den Fluss, die Promenade ist voller Menschen in Badekleidung. An den Buvetten, den Imbissen entlang des Ufers, stehen die Leute für ein Getränk an; eine Stimmung wie im Biergarten. Ein öffentlicher Hedonismus, den man in der Schweiz nicht vermutet. Der Museumsdirektor Ruby sagt: "Die Vorsichtsregel ‚Geh' nicht allein baden!' versteht sich auch als eine Aufforderung zur Gemeinsamkeit. Rheinschwimmen ist die flüssige Form des Flanierens", sagt Ruby.
Kurz vor der Dreirosenbrücke endet die Schwimmzone, dahinter beginnt linker Hand das Firmengelände von Novartis, ein Campus voller Superbauten. Vom Rhein aus sofort erkennbar ist ein 63 Meter hoher Stäbchen-Bau von, ach ja, Herzog & de Meuron. Jetzt müssen wir aussteigen, bald beginnt der Hafen. Wir sind ungefähr drei Kilometer getrieben und geschwommen, waren etwas mehr als eine halbe Stunde im Rheinwasser. Einmal ausschütteln, kurz abtrocknen, dann Platz nehmen auf den warmen Ufer-Stufen. Auf die süße Gefahr folgt das süße Nichtstun.
Später am Abend, nach einem Besuch in den Restaurants und Kneipen etwas weiter nördlich am Rhein, in denen Basel einen rauen, unfertigen Charakter annimmt, gehe ich noch hoch zum Dreiländerpunkt. Kurz vor Mitternacht liegt der Fluss schwarz-dunkel da, links blinken die Lichter Frankreichs, rechts leuchtet Deutschland. Von hier an wird der Rhein, so wie wir ihn eigentlich kennen: mächtig und stolz und geschichtsträchtig. Doch nie wieder wird er so lebendig sein wie hier in Basel.
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