Ferienzeit, früher. Der VW Passat war voll beladen, belegte Brote und hart gekochte Eier füllten die Tupperdosen, kalter Früchtetee die Flaschen. Mutter hatte den ADAC-Reiseatlas Deutschland auf den Knien und erwartete mal gespannt, mal angespannt die Fragen vom Vater, der stolz das Lenkrad in den Händen hielt. Und wir Kinder? Wir freuten uns auf die Fahrt in die große weite Welt: nach Sylt oder zum Timmendorfer Strand, in die Eifel, an die Mosel oder in den Schwarzwald. Damals erschienen uns diese Ferienziele so exotisch und fern wie Amerika, Afrika, Indien. Dabei dauerte die Fahrt oft nur wenige Stunden.
Deutschland aus den Augen verloren
Später richtete sich der Blick in die Ferne. Statt nach Amrum oder an den Bodensee reisten wir in die Toskana und die Bretagne. Als wir mutiger wurden, flogen wir nach New York und Bangkok, zur Garden Route in Südafrika und dem Great Barrier Reef in Australien. So weit, so gut, so schön. Deutschland hatten wir damals aus den Augen verloren.
Es ist schon bezeichnend: Wir kennen Fernweh und Heimweh, aber ein Wort für „Nahweh“ haben wir nicht. Vermutlich, weil die Sehnsucht, Orte in der Heimat zu entdecken, vergleichsweise gering ausgeprägt ist. Unsere Traumziele liegen traditionell in der Ferne, jenseits der großen Meere und der Alpen. Wenn die Deutschen in den 50er Jahren „’O sole mio!“ hörten, träumten sie von Capri, von Sonne statt Regen und Dolce Vita statt Maloche. Danach kamen andere Inseln, zuerst Mallorca, Ibiza oder Kreta, später die Malediven und die Dominikanische Republik. Und die Metropolen: Paris, London, Los Angeles. Projektionsflächen unseres Fernwehs, alle mit dem Flugzeug erreichbar.
Reiseland Deutschland
Dabei muss man nur wenige Kilometer fahren, um neue Welten zu entdecken. Dass das Gute so nah liegt, weiß das Volk, und es verhält sich auch so: Mit einem Marktanteil von 31 Prozent bleibt Deutschland das mit Abstand beliebteste Reiseziel der deutschsprachigen Bevölkerung, gefolgt von Spanien mit 13 Prozent. Die Vorteile? Wir sind oft schnell am Ziel, belasten die Umwelt weniger als bei den meisten Auslandsreisen, von Fernreisen ganz zu schweigen. Und dann wäre da noch die Vielfalt: Meere, Seen und Flüsse, Wälder, Täler und Berge, Dörfer und Großstädte, das alles kann Deutschland, unsere Heimat ist die Welt im Kleinen. Man muss nur losziehen, um sie zu entdecken, und sie ganz neu betrachten. Genauso wie früher.
Deutschland ist reich an Sehnsuchtsorten
In der Redaktion des stern arbeiten Menschen aus allen Teilen des Landes. Wir haben uns nach unseren Lieblingsorten in Deutschland gefragt. Nach verborgenen Schätzen, die mitunter abseits der Touristenpfade liegen, die uns magisch anziehen und die wir auch mit unseren Freunden teilen würden. Aus den Vorschlägen haben wir 50 ausgewählt – nach dem, was wir vermitteln wollen: Lust und Laune. Der Sommer kommt, die Wochenenden werden warm. Machen Sie sich auf den Weg, schauen Sie vor die Haustür. Oder fahren Sie immer weiter. Auch wenn wir es manchmal vergessen, weil es so nahe liegt: Wir leben in einem Land, das reich ist an Sehnsuchtsorten.
In Deutschland reist Gunnar Herbst am liebsten ins Wendland, nach Potsdam und nach Föhr. Doch dafür wird er in Zukunft kaum noch Zeit haben: Er hat sich vorgenommen, möglichst viele der Orte zu besuchen, die auf den folgenden Seiten vorgestellt werden
Gunnar Herbst