Am Nachmittag hat sie ihren Körper in Honig, Olivenöl und Milch gebadet, nun bahnt sie sich tänzelnd ihren Weg durch die Nacht, am Arm ein lackrotes Dior-Täschchen. Sogar Frank sieht neben ihr wie ein Statist aus, ein schrankgleicher Amerikaner in Smoking und Fliege, der eben Jazz-Klassiker in einer Bar zum Besten gegeben hat - als, na klar, Frank-Sinatra-Double. "You are Miss Mongolia?", röhrt er in tiefem Bariton. Sein Blick wandert über ihre 89-58-89-Kurven, sekundenlang. Mit Bewunderung sagt er: "And you should be."
Doch nun steht Miss Mongolia wie gewöhnliches Fußvolk in der Schlange vor dem Cirque Le Soir, dem neuen Club, über den halb Shanghai redet. An die 100 Menschen drängen sich vor der Absperrung. Bettelnde Blicke, aufgekratztes Tuscheln. Wer kennt wen, der jemanden kennen könnte, der hinter den roten Kordeln steht?
Natürlich kennt Miss Mongolia Rejnaldo Twerda, den Clubmanager, sie hat ihm ja vorhin eine Nachricht geschickt. Aber die Frau am Einlass lässt sie warten. Warten! Quälende Minuten verstreichen. Da, endlich, taucht Twerda auf. "Gibt es ein Problem?" - "Ja", sagt Miss Mongolia, das Lächeln etwas verrutscht. "I am so sorry for this", beeilt sich Twerda zu sagen. Erlösende Umarmung, Bussi links, Bussi rechts, jetzt geht es wieder mit rechten Dingen zu.
Drinnen muss Twerda etwas gutmachen, er winkt eine Flasche Champagner heran. Eine Investition, die sich lohnt, denn wo Miss Mongolia ist, ist die Party, sind die Männer mit den locker sitzenden Kreditkarten, gut betuchte locals, lallende Expats; im Laufe der Nacht werden sie um sie herumschwirren wie die Motten um das Licht.
Das dekadente Shanghai ist zurück
Auch hier, in einem der traditionsreichsten Kolonialhäuser der Stadt, am Bund, Nummer 22, Kronleuchter, Mosaikboden, feinster Stuck, auf dem eine Zirkusgesellschaft wie aus dem 19. Jahrhundert zu Bässen des neuen Jahrtausends tobt. "Agan the Dwarf", ein metergroßer Zwerg, tanzt in einem Käfig, von der Bar schleudert ein zweiter Popcorn durch den Raum. Der tschechische Riese Anton, 2,12 Meter groß, wirbelt einen Volltrunkenen durch die Luft. Moon, die blonde Burlesque-Tänzerin, knöpft auf der Bühne das essbare Glitzerkostüm auf und schwingt ihre quastenbehangenen Silikonbrüste. Aus einer übergroßen Moët-Flasche rieselt Silberkonfetti in ihren Schritt.
Wirtschaftskrise? Umweltskandale? Menschenrechtsverletzungen? Ganz weit weg. In schillernden Shanghaier Nächten wie dieser gibt nur eines den Takt vor: Wachstum, Wachstum, Wachstum.
Wie diese Stadt den Menschen den Kopf verdrehen kann! Bei Tag verspricht sie schnellen Erfolg, und bei Dunkelheit betört sie mit Magie. Das maximale Leben. Eine Endlosschleife aus Boom und Party. Wilder Westen im Osten, schwärmen die einen, das neue New York, die anderen, Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten, Schmelztiegel globaler Biografien, Disneyland.
Parcoursritt in der Disco-Rikscha
Ein typischer Abend in der 24-Millionen-Metropole sieht so aus: Nach dem letzten Meeting irgendeine Vernissage mit Freigetränken. Abendessen mit neun Leuten, von denen man sechs nicht kennt. Weiter, rein ins Taxi: zu viert auf die Rückbank. Mit 80 Sachen über die Stadtautobahn, 30 Meter über dem Boden, links und rechts die flackernden Lichter der Hochhausfassaden, das Gefühl: larger than life. Drinks im El Cóctel, "Old Flower Royale", "Bloody Red Snapper", so was in der Art.
Wieder Taxi, zwei Euro für vier Kilometer. Live-Konzert am Bund, auf der Bühne drei trommelnde Kolumbianer. Jemand aus der Autobranche spendiert zwei Flaschen Wodka. Parcoursritt in der Disco-Rikscha, aus angeklebten Lautsprechern wummert der "Gangnam Style". Ankunft in der Bar Rouge, Gin Tonic auf der Terrasse: spektakulärer Blick auf die spektakulärste Skyline der Welt.
Gegenüber in den 400-Meter-Wolkenkratzern brennt noch Bürolicht, zwei Uhr nachts, vermutlich Telefonkonferenzen mit Amerika. Ein Spanier strippt auf dem Tisch, zwei Chinesinnen kotzen synchron vom Geländer. Um halb vier Heißhunger: Feuertopf oder Nudelsuppe? Die Sonne geht auf: Fußmassage oder Bowlingbahn?
"Ich lebe meinen Traum"
Menschen, die man im Laufe einer solchen Nacht trifft: die Künstlerin aus Texas, die ans andere Ende der Welt geflohen ist vor ihrem Vater, einem Tea-Party-Republikaner. Die DJane aus Wladiwostok, früher Jurastudentin, die sich vor drei Jahren spontan in ein Flugzeug nach Shanghai setzte. Der australische Whiskey-Promoter, der chinesischen Frauen erzählt, er kenne Hollywood-Produzenten. Ach ja, und Chun Yi, geboren im Norden Shanghais, Studium in Washington, DC. Sechs Jahre war sie weg, heute erkennt sie ihre Heimatstadt kaum wieder: Einen "umgekehrten Kulturschock" erlebe sie, so fremd ist ihr das neue, globalisierte Shanghai.
Miss Mongolia dagegen kann ihr Glück nicht fassen. "Ich lebe meinen Traum", sagt Buyantogtokh Battogtokh, so heißt sie mit bürgerlichem Namen. Ein Zungenbrecher, lieber: Britta. Aber vor allem ist sie "Miss Mongolia". Den Titel hat sie Shanghai zu verdanken, wie so vieles. In einer Jurte, in der mongolischen Grassteppe, wuchs sie auf. Neben Pferden und Ziegen. Als sie 17 war, sah sie Shanghai im Fernsehen. "Die Skyline. Das Leuchten. Ich dachte: Da muss ich hin."
Übernommen aus
Geo Special "Shanghai, Peking Hongkong", Heft 1/ 2014, ab sofort für 8,50 Euro am Kiosk. Dort finden Sie auch die vollständige Shanghai-Reportage. Oder als iPad-App im iTunes Store für 7,99 Euro.
Pummelig war Britta damals, elf Zentimeter kleiner als jetzt. Ihre Cousine kam mit, die Mädchen teilten sich ein Zimmer in einem öden Vorort Shanghais. Britta paukte Mandarin, paukte Englisch, stemmte Gewichte, nahm zehn Kilo ab. Eine Australierin, die sie traf, fragte: "Willst du modeln?" Die ersten Male: öde Brotjobs, Katalog-Shootings und Automessen. Dann riefen Lingerie-Hersteller und Sterne-Hotels an, irgendwann die Tourismusagentur der Mongolei: Ob sie nicht am nationalen Schönheitswettbewerb in Ulan- Bator teilnehmen wolle?
"Früher konnte ich mir in Shanghai kaum einen Drink leisten", sagt Britta. Seit sie als Miss Mongolia wiedergekommen ist, rollt die Stadt ihr den roten Teppich aus. Divenhaft schwebt sie in diesen Tagen von Luxus-Events zum Galadinner. Überall heißt es: "Champagner, Britta?" Das Hirtenkind ist jetzt Prinzessin der Nacht. Shanghai, Shanghai.