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Südkoreas lebenspralle Haupstadt Schlaflos in Seoul

Um dem Tempo von Südkoreas Hauptstadt mit den Nachtmärkten, modernen Luftschlössern und Glitzermalls standzuhalten, dopte sich "Geo Saison"-Autor Oliver Maria Schmitt mit Sauerkohl und Ginseng.

Sunny war sauer. Seit einer halben Stunde wartete sie an der Seilbahnstation zum Seoul Tower. Wo ich denn bliebe? Sorry, im love hotel habe mich plötzlich der Schlaf übermannt, gleich sei ich aber da, keuchte ich ins Handy, während ich durch endlose Gänge einer U-Bahn-Station hetzte und gleichzeitig ein Löffelchen bibimbap in mich reinstopfte. Wenig später gondelten wir den Berg Namsan hinauf, zum Fernsehturm, dem Wahrzeichen im Herzen der Stadt. Da lag sie vor uns ausgebreitet, die Kapitale Südkoreas, als hätten die elf Millionen Einwohner einen gewaltigen Eimer Beton verschüttet, der die vielen Berge und Hügel umspülte. Blassrot versank die Sonne hinter dem Höhenzug Bukhansan, im Süden glitzerte das Band des mächtigen Han-Flusses.

Was ich seit meiner Ankunft in Seoul denn eigentlich gesehen und erlebt hätte, wollte Sunny wissen. Ich musste überlegen. Was hatte ich in den drei Tagen getan? "Gewartet", sagte ich.

Geheimnisvolle Bande

Ja, eigentlich hatte ich nur auf einen Anruf von Lee Charm gewartet, dem Chef der südkoreanischen Tourismusbehörde. Er sollte mir erzählen, was Korea mit Deutschland verbindet - mal abgesehen vom gemeinsamen Schicksal der Teilung. Deshalb war ich hier. Ich hatte von koreanischen Jodlern gehört, von deutsch-koreanischen Kirchengemeinden, von einer rätselhaften Werther- und Charlotte-Verehrung - und von Lee Charm und seiner abenteuerlichen Karriere.

Gefunden in...

Geo Saison , Heft 8/2011, für 5 Euro am Kiosk.

Über ihn hatte ich schon einiges im Internet gelesen: Ich wusste, dass er 1954 in Bad Kreuznach als Bernhard Quandt auf die Welt und als reisender Student irgendwie nach Seoul gekommen war. Dort trat er als Koreanisch sprechender Deutscher im Fernsehen auf, moderierte Koch- und Spielshows, seine Lebensgeschichte wurde als Serie verfilmt, die Hauptrolle spielte er selbst. Er schrieb Bücher, wurde Wirtschaftsberater, heiratete eine Landestochter, nahm als erster Deutscher überhaupt die südkoreanische Staatsbürgerschaft an und wurde als oberster Touristiker sogar Mitglied der Regierung.

Wenn irgendjemand die geheimnisvollen Bande zwischen Südkorea und Deutschland erklären konnte, dann Lee Charm. Warum rief er nicht zurück?

Erstmal Batterien wieder aufladen

Ich saß in meinem Hotel und schaute mir Charm-Interviews auf YouTube an, schließlich war ein DVD-TV-SpielkonsolenComputer auf dem Zimmer. Korea sei das einzige Land der Welt, "wo Buddhismus, Christentum und Konfuzianismus so ausgewogen aufeinandertreffen", sagte der Deutschkoreaner, es sei ein "Kaleidoskop der Kulturen", ja, ein regelrechtes "Energiezentrum". "Kommen Sie nach Seoul", rief er strahlend, "und laden Sie Ihre Batterien wieder auf!"

Das hatte ich auch bitter nötig, denn um dem Superstar aus Bad Kreuznach tatsächlich begegnen zu dürfen, war einiges an Batteriestrom draufgegangen. Ich hatte über Wochen hinweg mit den Behörden verhandelt, Passfotos, Ausweiskopien, Lebensläufe, Empfehlungsschreiben und vorbereitete Interviewfragen nach Seoul geschickt. Nordkorea wäre vor Neid erblasst.

Perfekt gestylte Omas mit Smartphones

Nun war ich vor Ort, und alle Ansprechpartner hüllten sich in Schweigen. Ich war ratlos, übermüdet und irgendwie auch eingeschüchtert. Mein billiges love hotel lag mitten in Itaewon, dem Ausgehviertel der US Army. Fünf Sorten Körperlotion auf dem Zimmer, mein Duschgel hieß "Romantic Love". Das sei aber hier kein Puff, hatte der Mann an der Rezeption gesagt. In Seoul wohne man wegen der irren Mieten sehr beengt; und wenn die Jugend mal privat feiern, Filme schauen oder Konsole spielen wolle, dann checke man ins love hotel ein. Und für den Fall der Fälle stehe dann eben auch eine Auswahl an Lotionen und Duschgels bereit.

Mit der Fernbedienung konnte ich Raumbeleuchtung, Klimaanlage und den Flachbildschirm bedienen. Im Fernsehen kein Lee Charm, sondern Live-Übertragungen von Videospielen, unterlegt von aufgeregtem Kommentatorengeschrei. Draußen blinkten die Neonreklamen der Clubs, Discos, Bars und Saunas. Planlos surfte ich durch die Stadt, spielte "Lost in Translation". Ein unglaubliches Gebrumme und Gewusel, in jeder Straße, an jeder Ecke wurde gehandelt und gespachtelt, gehupt, gestaut und demonstriert. Ein gutes Dutzend Ausgeh- und Shoppingviertel, alle doppelt so groß und noch in der Nacht dreimal so lebhaft wie Berlin Mitte bei Tag.

Kaum hatte ich das Stadtleben über der Erde halbwegs verkraftet, musste ich erschüttert feststellen, dass unter der Erde ein zweites Seoul lag. Oben war einfach nicht genug Platz. Ich trieb durch riesige unterirdische Märkte mit rätselhaften Nahrungsmitteln, durch Einkaufszentren, Malls und Restaurantstraßen, alles verbunden durch ein hochmodernes, schnelles und blitzsauberes U-Bahnnetz, das täglich fünfeinhalb Millionen Fahrgäste durch die Eingeweide des Metropolenmolochs jagt. Nie sah ich mehr Menschen in gut geschnittenen Anzügen, mehr Miniröcke, waghalsiger geschnittene Trendfrisuren. In der U-Bahn stand ich neben perfekt gestylten Omas, die auf ihren Smartphones Digitalfernsehen schauten und gleichzeitig auf einem zweiten Handy telefonierten.

Ich wollte Lee Charms "Kaleidoskop der Kulturen" am eigenen Leib erleben und fuhr am Sonntagmorgen zur Yoido Full Gospel Church, mit zwölftausend Sitzplätzen eine der größten Kirchen des Planeten. Ein Viertel der Südkoreaner sind Christen, für ein asiatisches Land ein ungewöhnlicher Spitzenwert. Der Gottesdienst war praktisch ausverkauft, ebenso die sechs weiteren, die an diesem Sonntagvormittag abgefeiert wurden. Es gab Erweckungsgeschichten, Chorgesang und Sakropop zum Mitschunkeln. Stolz und zufrieden predigte Reverend Yonggi Cho vor eindrucksvoller Gummibaumkulisse und dankte Gott für das Wunder seines Erfolges. Vor fünfzig Jahren konnte er seine Gemeinde noch an einer Hand abzählen, heute hat sie eine Million Mitglieder und ist damit die größte der Welt.

Der Hunger trieb mich weiter. In einem unterirdischen Foodcourt aß ich wieder mal bibimbap, gerührten Reis mit allem Möglichen drin, weil es das einzige Gericht war, das ich kannte und aussprechen konnte. An die scharfen Sachen, die reichlich angeboten wurden, traute ich mich nicht ran.

Höchste Schönheitschirurgendichte weltweit

Der U-Bahn-Ausstieg endete in der Delikatessenabteilung eines Hyundai-Kaufhauses. Ich schlenderte vorbei an endlosen Vitrinen mit herrlichen Fleischschnitzereien vom Wagyu-Rind. Die Entrecôtes, Filets und Medaillons waren drapiert wie Kunstwerke und hatten ähnliche Preise. Mit Fleisch verstand man umzugehen. Das galt fürs Tier wie für den Menschen, denn als ich vor die Kaufhaustür trat, sah ich in allen vier Himmelsrichtungen: Kliniken, Kliniken, nichts als Kliniken. Ich war im Glitzerviertel Apgujeong, wo Prada, Gucci und Armani ihre Niederlassungen haben und die Kundschaft sich gleich das dazu passende Gesicht schneidern lassen kann. Hier herrscht die wohl höchste Schönheitschirurgendichte weltweit, die Hälfte aller Koreanerinnen soll bereits operiert sein. "Big Eye Surgery" oder "Mega Cosmetic" heißen die Institute, die dazugehörigen Web-Adressen dream surgery.co.kr oder herbreast.com. Ich betrat einen der größeren Läden mit "Walk in Surgery" und bat einen Operateur um einen Kostenvoranschlag für die plastische Entfernung mehrerer Kinne und Schwimmreifen. Ich wollte mich der Gesamtsituation besser anpassen. Doch der Mann ließ sich nicht auf einen Festpreis ein.

Zerknirscht zog ich weiter und verirrte mich in einem unterirdischen Gemüsemarkt, der ohne Vorwarnung in eine Ansammlung von Dentalkliniken überging. Zurück im love hotel, checkte ich erneut meine Mails - kein Lebenszeichen. Weder von Lee Charm noch von seiner Behörde.

Die zwei Geheimwaffen der Koreaner

Ich wusste nicht mehr weiter, musste raus, brauchte Luft. Mit der U-Bahn fuhr ich eine halbe Stunde nach Norden, schon türmten sich vor mir die bewaldeten Berge des Bukhansan-Nationalparks auf. Der Lärm der Stadt fiel von mir ab, die Luft trug das Aroma von Kiefern und Eichen. Ich ging durch ein großes Tor, sah die fliegenden Dächer des Hwagyesa-Tempels, ging hinauf zum Gebetsraum, zog die Schuhe aus und griff mir ein paar Sitzkissen. An der Decke flackerten hunderte kleiner Lämpchen mit Fürbittfähnchen. Ein Mönch schlurfte herein, verbeugte sich vor den drei goldenen Buddha-Figuren und startete, mit einem Hölzchen klappernd, seinen murmelnden Singsang. Von draußen drang Vogelgezwitscher, durch die papierbespannten Wände sickerte das Sonnenlicht. "Hawa, hawei, heasawa", sang der Mönch, sein Singsang sedierte und kalmierte. Heasawa hei. Endlich hatte ich eine Batterieladestation gefunden.

Infos

Auskunft: Empfehlenswert ist die deutsche Version der Website der Korean Tourism Organization KTO: www.visitkorea.or.kr. Unbedingt den Menüpunkt Reiseführer/Wichtige Reiseinformationen aufrufen.

Übernachten:

Hotel D'oro. Dieses saubere und preiswerte lovehotel liegt mitten im Partystadtteil Itaewon, Computer/Internet/DVD und freie Softdrinks inklusive. U-Bahn Itaewon, Exit 2, Tel. 749 65 25; DZ ab 50 €.

Lesen:

Schlaflos in Seoul von Vera Hohleiter, dtv, 8,95 €. "Korea für ein Jahr" nennt die in Seoul lebende Autorin ihren Erfahrungsbericht im Untertitel. Die derzeit beste Einführung zu Alltags-, Familien- und Arbeitsleben, zu Kultur, Pop und Partys in Korea.

Naja, für drei Tage sei das eigentlich ganz schön schwach. Sie verstehe nicht, wie man so lächerlich wenig Termine haben könne, sagte Sunny, die ich über die Couchsurfing-Plattform im Internet gefunden hatte. Dafür, dass wir uns kaum kannten, fand ich das ganz schön frech. Aber das konnte ich als Ausländer nicht sagen, weil ich mein Gesicht nicht verlieren wollte. Ich konnte ja nicht mal ihren Namen richtig aussprechen. Sie heiße Song Hae, sagte sie, aber Sunny sei einfacher für mich. Sie war TV-Producerin und hatte sich mit Mühe den heutigen Abend freigeschaufelt. Ich murmelte etwas von Jetlag, von wenig Schlaf und viel Lärm, mein love hotel lag schließlich mitten im Partyviertel.

"Ich weiß schon, in Deutschland schlafen die Menschen sieben Stunden", lachte sie. "Aber hier geht das nicht. Wenn man die Aufnahmeprüfung für eine der 38 Universitäten Seouls bestehen will, gilt die Regel: Mit vier Stunden Schlaf kannst du es vielleicht schaffen - mit fünf fällst du durch. Ich bin natürlich nicht durchgefallen." "Wie schafft ihr das nur?", fragte ich. "Wir Koreaner haben zwei Geheimwaffen", sagte sie, als wir die Seilbahngondel nach unten, zurück in die Stadt, bestiegen. "Ginseng und Kimchi."

Das Beverly Hills von Seoul

Dass ich mich mit keinem von beidem auskannte, quittierte sie mit einem Kopfschütteln. Sie öffnete ihr Notizbuch, zog ein paar Linien und machte meine Agenda für die kommenden Tage. Um mehr über Deutsche in Seoul zu erfahren, brauchte ich doch Mr. Charm nicht. Das könne ich auch so haben. "Jetzt fahren wir erstmal in die Platoon-Kunsthalle."

Die Kunsthalle war aber gar keine, sondern eine Ansammlung olivgrüner Container, die zu einem Gebäude verbunden waren. Seit der Eröffnung vor zwei Jahren hatte es dafür Architekturpreise gehagelt. Aus den Boxen Clubgeblubber, an der Bar saß Tom Büschemann und schaute aus roten Augen dem Rauch seiner Gauloises hinterher. "Seoul ist ein totaler hub, hier herrscht ein unglaublicher Pulsschlag, das hat uns total gekickt", sagte er, denn Büschemann war Kultur-Netzwerker und sprach die Netzwerker-Sprache. "Wir sitzen hier im Beverly Hills von Seoul und mischen die Szene auf, wir wollen provozieren, Underground- Künstler ausstellen, Party machen und ein trigger sein." Zusammen mit einem Partner betrieb er seit zehn Jahren in Berlin ein ähnliches Containerprojekt. Als sie überlegten, ein zweites Ding in Asien aufzumachen, war Seoul die erste Wahl. "Peking war uns zu überwacht und Tokio already overloaded. Mittlerweile haben wir im Süden, in Gwangju, schon die nächsten Container hingestellt. Das ging ratzfatz."

Man sei hier unheimlich deutschfreundlich, in den Sechzigern seien "tausende koreanischer Krankenschwestern und Bergarbeiter" nach Deutschland abgeworben worden, jede zweite Kneipe in Seoul führe das Wort "Hof" im Namen, "das kommt von 'Hofbräuhaus' und ist praktisch ein Indikator für Gemütlichkeit". Sogar Goethe sei hier allgegenwärtig. "Schaut euch nur die Lotte-Kette an, diesen Großkonzern. Überall Lotte-Warenhäuser, Lotte-Hotels und im Süden der Stadt die "Lotte World", der größte Indoor-Vergnügungspark der Welt. Die Dinger heißen so, weil das Lieblingsbuch des koreanischen Konzerngründers der 'Werther' war, der unglücklich in die Lotte verliebt war. Ihr wisst schon." Ob er nicht auch müde sei, fragte ich ihn, und Sunny musste schon wieder lachen.

Nein, schlafen, das gehe hier sowieso nicht. "Du kommst hier an, gejetlagt und verstrahlt, da tobt dieses ganze Leben um dich herum, und nachts, wenn es ruhiger wird, ruft Berlin ständig an." Da helfe nur ein ordentlicher Kimchi-Eintopf nachts um vier, dann gehe es wieder. "Seoul saugt, ganz klar", sagte Büschemann und verzog sich wieder in sein Büro, die Telefone riefen. "Aber es pumpt dich auch voll mit energy. Die Leute hier sind viel freundlicher, schneller und anpackender als woanders. Seoul is the place to be!"

Wir verabschiedeten uns und fuhren zum Namdaemun- Markt. Drei Uhr morgens, noch zu früh für Kimchi. Auf den endlos sich dahinziehenden Marktstraßen tobte das Leben. Der Klamottenhandel boomte, man orderte Gürtel, Malereibedarf, Elektrogeräte und getrockneten Fisch, bot Spielzeug feil und Brillen, Nüsse, Telefone, Mützen und tteok, farbige Reiskuchen - was es hier nicht zu kaufen gab, das gab es gar nicht. Dazwischen in Gold gefasste Ginseng-Geschäfte, vor denen die bärtigen Wunderwurzeln in mannshohen Alkoholgläsern standen. Trophäen der Gesundheit. Der Verkäufer schaute mir lang und tief in die Augen, dann legte er mir eine Packung Ginseng-Granulat hin, das ich täglich nehmen solle. Dazu könne ich noch rohen Ginseng knabbern, aber keinesfalls zu viel!

Mit dem Bus zur Grenze

Am nächsten Morgen ging ich zum Kimchi-Kochkurs, zu dem mich Sunny kurzerhand angemeldet hatte. Nach einer Stunde konnte ich den scharf und salzig eingelegten Chinakohl, die koreanische Variante des Sauerkrauts, selbst zubereiten. Vor kurzem war Kimchi von einer amerikanischen Fachzeitschrift zu "einer der fünf gesündesten Speisen der Welt" gekürt worden. Jede Familie macht vor dem Winter ihren eigenen Kimchi ein, gelagert wird er wegen seines Odeurs in speziellen Kimchi-Kühlschränken. Zum Abschluss bekam ich eine ordentliche Portion vorgesetzt, die Schärfe trieb mir die Tränen in die Augen. Doch weil ich auf Ginseng war, überlebte ich. Nach der Feuerattacke fühlte ich mich gut. Erleichtert. Sauber. Unverwundbar.

Ich bestieg einen Bus zur Grenze nach Nordkorea. Die Reservierung hatte natürlich Sunny besorgt. Was hätte ich ohne sie getan? Ich unterschrieb einen Zettel, dass ich keine Haftungsansprüche gegen den südkoreanischen Staat oder die UN-Sicherheitstruppen stellen könne, falls ich beim Besuch der Grenze von nordkoreanischer Seite erschossen werden würde. Dann durften wir den schwer bewachten Sicherheitsbereich betreten, die Verhandlungsbaracken, die noch immer genutzt wurden. Bewohnbarer kalter Krieg. Davor standen südkoreanische Soldaten mit Sonnenbrillen und geballten Fäusten.

Mini-Mädchen mit dicken Kopfhörern

Feindselig starrten sie nach Norden, von wo nordkoreanische Grenzer feindselig zurückstarrten. Ich starrte eine Weile mit, bis ich nicht mehr konnte. Jetzt begriff ich, warum das Leben in Seoul so schnell, so wild, so gegenwartssüchtig war: Das alles konnte auch jeden Augenblick vorbei sein! Seoul liegt gerade mal fünfzig Kilometer von der DMZ entfernt, der sogenannten "Demilitarisierten Zone", die beide verfeindete Staaten trennt und in Wahrheit eine der waffenstarrendsten Gegenden der Welt ist. In jeder U-Bahn-Station stehen große Schränke mit Gasmasken für den Ernstfall, der hoffentlich nie eintreten wird.

Am Abend hatte Sunny eine kleine Ausgehtruppe ins Studentenviertel Hongdae beordert. Mit dabei war die deutsche Journalistin Vera Hohleiter, die seit vier Jahren in Seoul lebte, der Liebe wegen. Und wie Lee Charm war auch sie als Koreanisch sprechendes Kuriosum in eine Talkshow geraten, hatte lokale Berühmtheit erlangt und ein Buch über ihre Erfahrungen im "Land der Morgenstille" geschrieben. Es hieß "Schlaflos in Seoul". Wie sonst?

Am Wochenende war in Hongdae die Hölle los. Lange Schlangen vor den Clubs und Diskotheken, auf den Straßen kein Durchkommen. Die Boys und Girls Koreas führten ihre heißesten Teile aus. Wir gerieten in eine Menge Mini-Mädchen mit dicken Kopfhörern, über denen Ballons schwebten. Verzückt tanzten sie zu einer unhörbaren Musik. Vera deutete auf einen Mann, der an einer Straßenecke an Turntables hantierte. "Das ist der DJ, die Kopfhörerleute sind über Funk mit ihm verbunden. Silent Disco heißt das. Das einzige, was in Seoul leise ist."

Die geheimen Schlafzimmer der Stadt

In einem Zeltrestaurant fanden wir freie Plätze. Sunny ließ mariniertes Rindfleisch kommen, um es am Tisch über glühenden Kohlen zu grillen. Mit einer Schere schnitt sie das Fleisch in mundgerechte Stücke, dazu gab es Kimchi. Danach gingen wir in ein Lokal namens "Makgeolli-Hof", in dem man ausschließlich makgeolli trank, eine Art alkoholische Reisdickmilch, die in Messingkesseln serviert wurde. "Die Koreaner saufen wie die Löcher, und das bei jeder Gelegenheit", meinte Vera, und Sunny nickte. Auch wir nutzten die Gelegenheit. Ob ich mein Ginseng genommen hätte, wollte Sunny wissen.

"Klar", sagte ich, "ich bin schwer auf Ginseng und voll auf Sauerkohl. Ich liebe Seoul!" Was genau danach geschah, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich glaube, es kam zu einer regelrechten makgeolli-Kesselschlacht. Irgendwann wusste einer eine Bar, wo man Longdrinks aus Plastikbeuteln trinken konnte. Nichts wie hin. Noch später saßen wir in einer Reggaekneipe unter einem gigantischen magischen Pilz. Im Morgengrauen fuhr uns dann ein Taxi ins 24 Stunden-Spa. Nur Sunny fuhr weiter, sie hatte in zwei Stunden ein Meeting.

Wir betraten einen riesigen Badekomplex mit unzähligen Becken, Heiß- und Feuchträumen. Alle trugen die T-Shirts und Shorts, die sie am Eingang erhalten hatten. Doch keiner badete, alles schlief. Wild verstreut, kreuz und quer auf dem Boden, überall lagen sie. Körper Koreas schmiegten sich an koreanische Körper. Die Bäder - das waren also die geheimen Schlafzimmer dieser Stadt. Ich holte mir eines dieser handtaschengroßen Kopfkissen, ging kontrolliert zu Boden und schlief sofort weg. Träumte den Traum vom schlaflosen Seoul, von der Stadt des unsichtbaren Mr. Charm, Heimat der Nachtmärkte, Nachteulen und Nachtbäder. Und träumte mich meiner eigenen Heimat entgegen. Deutschland - da musste ich hin. Die Batterien wieder aufladen.

Oliver Maria Schmitt

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