Steigt sie nicht auf Berge, hält sie Vorträge: Die bekannte Höhenbergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner hatte schon mehrfach Versuche unternommen, den zweithöchsten Achttausender und den als äußerst schwierig geltenden K2 zu bezwingen. Unter den Zuhörern ihrer zahlreichen Präsentationen über die Expeditionen zu den höchsten Gipfeln der Welt war vor Jahren auch Stefan Dech, Direktor des Erdbeobachtungszentrums des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR).
An jenem Abend hatte der Professor den Gedanken, dass sich die Flanken des K2 mithilfe modernster Satellitendaten genauer kartieren lassen müssen: dreidimensional, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven in einer bislang nie erreichten Qualität. "Jede beliebige Position am Berg, jeden Aufstiegsweg und alle Feinheiten werden wir so sehen können", so Dech. "Dann können wir den K2 auf allen Routen auch virtuell besteigen. Das könnte auch Gerlinde bei ihrem nächsten Versuch helfen."
Völlig neuartige Visualisierung der Berge
Seine Idee: Beim Überflug eines Satelliten werden drei Aufnahmen hintereinander aus verschiedenen Weltraum-Perspektiven geschossen, ein sogenanntes Triple Stereo Image. Doch die Kamerasysteme der Erdbeobachtungssatelliten sind eher für Siedlungsflächen, Städte und die Landwirtschaft ausgelegt, weniger für die starken Kontraste von dunklem Fels und hellem Schnee im Hochgebirge.
Die Wissenschaftler des DLR mussten daher neue Wege finden und zusammen mit den Betreibern der US-Satelliten in deren "Nutzlastmanagement" eingreifen. Doch schon die ersten Aufnahmen bei wolkenfreiem Himmel lieferten erfolgreiche Ergebnisse. Im Animationslabor wurden die Fotos übereinandergelegt und verrechnet.
Anfang Juli 2011 siaen Kaltenbrunner und ihr Team beim Erdbeobachtungszentrum des DLR in Oberpfaffenhofen am Computer und betrachten durch 3D-Brillen die Nordseite des K2, wo sie zwei Wochen später ihre Basislager aufschlagen wollen. Virtuell begutachten die Alpinisten die Details und die Schlüsselstelle in der Gipfelflanke. "Überraschenderweise ist dieser Teil deutlich weniger steil als befürchtet: Er scheint also gut machbar", so Kaltenbrunner.
Nur wenige Wochen später, am 23. August stand die Bergsteigerin, auch dank der Hilfe der neuartigen DLR-Karten, auf dem Gipfel des K2. Damit hat Gerlinde Kaltenbrunner alle 14 Achttausender bestiegen - als erste Frau, die auf zusätzlichen Sauerstoff aus der Flasche verzichtete.
Die vierte Dimension beim Bergsteigen
Durch den Gipfelerfolg angespornt entstehen nach dem stereo-fotogrammetrischen Verfahren mit Satellitendaten weitere Abbilder von Gebirgslandschaften - und es wächst der Wunsch, die Fotos von höchster Genauigkeit in einem Buch zu veröffentlichen: "m4 Mountains – Die vierte Dimension", so lautet der Titel des Bildbandes, der bei Malik erschienen ist.
Die einmaligen Aufnahmen der 13 hohen Berge sind mit 13 Geschichten um deren Ersteigungsgeschichte kombiniert. Ausgewählt wurden die Textbeiträge unter anderem von Reinhold Messner. "Die Satellitenbilder von DLR gaben mir die Möglichkeit, die Berge völlig neu zu erzählen", sagt Messner.
Nicht nur für Alpinisten, auch für alle Bergbegeisterten ist der Bildband ein Glücksfall. Ob nun Matterhorn oder Mount Everest, die Berge erhalten durch die Fotos zusammen mit den packenden Erzählungen eine vierte Dimension: Es ist die Leistung der Bergsteiger, die sich so fast schon hautnah nacherleben lässt. Selten hat es eine solche Symbiose von wissenschaftlicher Neugier und Begeisterung für das Bergsteigen gegeben.
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