Auf die Idee muss man erstmal kommen: dass so einer Giraffe auch mal schwindelig werden könnte. Wenn man ehrlich ist, zählt sie ja eher zu den Motorik-Losern im Dschungel. Sieht ganz schön ungelenk aus, wie sie da am Wasserloch steht, die Beine weit von sich gespreizt, den Hals schildkrötenmäßig Richtung Wasserloch gestreckt. Ist wahrscheinlich ein ziemlicher Lacher in der Savanne, wenn Giraffen sich Richtung Flussufer aufmachen. Aber zumindest wird ihnen dabei nicht schlecht, das ist ein kleiner Trost, spezielle Klappen in den Blutgefäßen verhindern, dass Giraffen das Blut beim Trinken in den Kopf läuft. So steht es jedenfalls auf der kleinen Erklärtafel im Museum of Natural History in Washington D.C.
Chad und Maura aus Maryland lachen sich trotzdem schlapp. Sie sind mit ihrer Schulklasse aus Maryland hier, fast jeden Tag ist die Halle der Säugetiere voller Kinder, die mit ihren Zeigefingern die Luft durchbohren und aufgeregt durcheinander schreien, Hunderte von Tieren sind hier ausgestellt, Elefanten und Löwen, Eisbären und Elche, dazu Ziegen, Gorillas, Fledermäuse, Stachelschweine, Büffel, Dachse, Präriehunde und sogar ein Nashorn. Sie stehen auf Podesten oder in Vitrinen, liegen auf Baumstämmen oder künstlichen Wasserlöchern. Gewitter und Urwaldgeräusche dröhnen über die Lautsprecher.
Auch die Erwachsenen haben ein seliges Staunen in den Augen. Was bei ihnen aber eher damit zusammen hängt, dass sie keinen Cent Eintritt bezahlt haben. Denn während in New York, Los Angeles und San Francisco die Museen horrende Eintrittspreise verlangen, sind die Häuser der Hauptstadt dank großzügiger Stiftungen umsonst: zum Beispiel das Luft- und Raumfahrtmuseum, die weltweit größte Sammlung von Flugzeugen und Raketen. Oder das Nationale Indianermuseum. Die Staatliche Kunstgalerie. Die renommierte Hirshhorn-Sammlung. Nicht mal die Garderobe kostet hier Geld. Und all das stellt den zeitlich beschränkten DC-Besucher beizeiten vor ein unlösbares Problem: Was schaue ich mir bloß heute an? Vincent van Gogh? Das Space Ship One? Oder die Pandabären im Zoo?
Aufgerissenes Rotfilzmaul und lässig gekreuzte Schenkel
Kermit der Frosch jedenfalls ist ausquartiert. Das macht die Sache etwas kompliziert; das Museum für amerikanische Geschichte ist wegen Renovierungsarbeiten bis zum Sommer 2008 geschlossen. Aber die schönsten Exponate sind im Luftfahrtmuseum untergebracht, immerhin. Mit mehr als acht Millionen Besuchern pro Jahr ist es das best frequentierte der Welt, also fällt es gar nicht auf, wenn man nur den kleinen Filzfrosch sehen will. Im zweiten Stock, ganz am Ende des Gangs haben sie ihn hingestellt, unter eine gläserne Kuppel, wie einen wertvollen Diamanten. Kermit sieht wirklich freundlich aus. Seine Besucher empfängt er mit aufgerissenem Rotfilzmaul und lässig gekreuzten Schenkeln, und er hat so viele Fans, dass sie einem ständig auf die Füße trampeln, die kleinen Ganoven, wie schon vor dem künstlichen Wasserloch.
Neben Kermit ist nicht mehr ganz so viel los. Da liegen die Boxhandschuhe von Muhammed Ali, R2D2, Louis Armstrongs Trompete und das schwarze Laptop, an dem Carrie Bradshaw in "Sex And The City" ihre Kolumne geschrieben hat. Die Botschaft der Ausstellung ist nicht tiefsinnig, dafür aber sehr unterhaltsam: Seht her, für ein bisschen Kultur haben wir Amerikaner doch schon gesorgt. Zwar war sie nie komplex oder versponnen, aber dafür einfach und meistens lustig. "Simple is good", hat der Amerikaner Jim Henson mal gesagt und die Muppets erfunden.
Jedem ein monumentales Denkmal
Von der Popkultur zur Klassik ist es in Washington nur ein kurzer Spaziergang. Fast alle Museen von Washington DC liegen an der "National Mall", der symbolträchtigen Achse zwischen Capitol Hill und zahlreichen Memorials, George Washington, Abraham Lincoln, Thomas Jefferson; jedem ein monumentales Denkmal, lautete offenbar die Devise der Neuen Welt, soll bloß keiner sagen, hier hätte sich nichts getan.
Es sind die Künstler der Alten Welt, die eine andere Version der Geschichte erzählen, sie hängen im Westflügel der Nationalgalerie; stundenlang kann man hier stehen und staunen, von der Renaissancemalerei Italiens bis zu den französischen Impressionisten, Monet, Renoir, Degas, Cézanne, van Gogh, Matisse und Gauguin; wer überwältigt ist, geht schnell einen Kaffee trinken. Oder kommt einfach am nächsten Tag wieder. Der Eintritt kostet ja nichts.
Deshalb kann man auch gern mal nur zum Zeitunglesen herkommen - denn dafür gibt es in ganz DC keinen schöneren Ort: In den kirchhohen Foyers plätschert Wasser aus barocken Brunnen, die umgeben sind von blühenden Sträuchern und Bäumen, ihre Ästen reichen hoch bis zur gläsernen Decke. Still ist es hier und licht, William Turner hätte seine Freude gehabt; allerdings ist er jetzt tot. Verstanden hat ihn zu Lebzeiten ohnehin niemand, den Meister des Lichts und der Farben; wie ein Koch sei er, der ein gutes Curry bereiten könne, schrieb mal ein Kritiker, doch mit seiner Vorliebe für Gelb behandle er ja die ganze Welt wie ein Curry.
Irgendwann haben sie dann alle gemalt wie er, Bild für Bild kann man sich davon überzeugen oder einfach zu den Impressionisten hinübergehen, die seinen Umgang mit dem Licht genau studierten. Die Turner-Ausstellung in Washington geht nicht mehr lange, aber viele Exponate sind ohnehin aus der eigenen Sammlung, so dass man demnächst einfach wieder ein bisschen suchen muss. Die strahlenden Farben erkennt man von weitem. Wen es blendet, der geht am besten rüber ins Ostgebäude, zu den Bildern von Edward Hopper, auf denen es meist dunkel ist und einsam, so dass man ihn kurz verwünscht, diesen freien Eintritt, es stehen einfach zu viele Menschen um einen herum. Erst wenn man den iPod in die Ohren drückt, geht es wieder, Morrisseys Stimme gibt einem schnell wieder das Gefühl von Einsamkeit. Am besten verlässt man das Museum, wenn es schon dunkel ist.
Pathos und Spektakel
Denn dann wirken die angestrahlten Skulpturen von Roy Liechtenstein und Louise Bourgeois im Garten vor dem Museum besonders skurril; von Mitte November bis März kann man fast lautlos an ihnen entlang gleiten, der große Brunnen des Gartens ist für diese Zeit nämlich eine Eislaufbahn. Obwohl: So ruhig ist es hier dann zugegeben nicht mehr, im Gegenteil, ein pausenloses Geschrei und Gekreische ist das da auf dem Brunnen, aber so sind sie, die Amerikaner, alles was sie tun muss Pathos haben und Spektakel sein.
Was bei der Gestaltung eines Museums natürlich ein großer Vorteil ist. Die Evolution der Meerestiere im Naturkundemuseum wird so zum Drama um Leben und Tod. "Zwei Mal mussten neue Stars für die große Unterwassershow gecastet werden", steht auf einer Tafel. "Leider hat es die Trilobite-Truppe nicht geschafft. Im ersten Akt der große Star, dann nie wieder gesehen." Ein grausames Schicksal. Zum Glück ist es schon 570 Millionen Jahre her. Der größte Teil der Ausstellung im Naturkundemuseum erklärt sich von selbst, der Rest ist in einfachem Kinder-Englisch erklärt, das jeder ein bisschen versteht.
Oder man schaut den Wissenschaftlern einfach direkt bei der Arbeit zu. Hinter einer meterhohen Glasscheibe sitzt eine Archäologin unter einer Neonleuchte, mit einem Skalpell schabt sie vorsichtig an einem lammkeulengroßen Dinosaurierknochen herum. "Ich arbeite an einem Titanosaurknochen, der 120 Millionen Jahre alt ist", steht auf einem Schild, daneben liegen Pinsel, Lupe, Pinzette und eine Brille; man hat das Gefühl dabei zu sein, auf der großen Dinosaurier-Expedition im Bauch des Naturkundemuseums.
Auch Amerika hat seinen Knut
Von den fossilen Vorfahren zu den lebenden Verwandten sind es am Ende dann nur noch fünf Metrostops. Auf langen Rolltreppen geht es an die Erdoberfläche, ein paar Straßen weiter liegt der Zoo; auch er gehört zur Sammlung der Smithsonian Stiftung, auch er kostet keinen Eintritt. Was umso erstaunlicher ist, da im Zoo auch aufwendig geforscht wird: In einer Art Think Tank kommunizieren Wissenschaftler mit Orang Utans; mit der kürzlich eröffneten Geparden-Station soll das Aussterben der Großkatzen verhindert werden. Das klingt in der Zusammenschau großartig; aber auch im Zoo von Washington gibt es die üblichen Verlierer, die keiner sehen will: Vögel, Wild, Insekten. Zum Glück gibt es aber noch die Bären, womit der Tierpark dann wieder voll im Trend liegt. Nach dem Gehege von Merlin, dem Lippenbär, kommt bald das Revier von "Tai Shan", einem zwei Jahre alten Pandabären. In DC wird Tai Shan nur "Butterstick" genannt, weil er bei der Geburt nicht größer war als ein Stück Butter. Tai Shan ist der amerikanische Knut. Er ist schon vier Jahre alt, ziemlich groß und hält ausgiebige Mittagsschläfchen auf den Felsvorsprüngen seines Geheges. Das sieht so lustig aus, dass man ihm sogar im Internet dabei zuschauen kann: Mehrere Webcams übertragen das Leben der beliebtesten Tierarten aus dem Zoo.
Falls sich das irgendjemand noch ernsthaft fragt: natürlich umsonst.