Donald Trump vs. Joe Biden – die Zeichen stehen auf Revanche. Der eine ist nahezu konkurrenz-, der andere ist alternativlos. Die US-Präsidentschaftswahlen 2024 dürften fürchterlich knapp werden – wieder einmal. So knapp, dass am Ende ausgerechnet eine Bewegung, die angeblich gegen politische Extreme kämpft, das Zünglein an der Waage sein könnte.
Sollte es im kommenden Jahr erneut zum Duell der Silberrücken kommen, will die zentristische Bewegung "No Labels" neben links und rechts eine dritte Wahlmöglichkeit bieten. Dass es ein gemäßigter Kandidat ohne eine der beiden Parteien im Rücken ins Weiße Haus schafft, ist zwar Tagträumerei. Nichtsdestotrotz könnte das Mittelmaß gefährlich werden – vor allem für die Demokraten.
Nicht rechts. Nicht links. Genau in der Mitte
"Fühlen Sie sich politisch heimatlos?", fragt die Bewegung auf ihrer Website. Wenn ja, dann soll die Suche hier endlich zu Ende sein. No Labels, das heißt frei übersetzt: ohne Stempel, weder erzkonservativ noch linksliberal, ein politisches Fabelwesen in den USA im Jahr 2023. Man kämpfe seit "2009 gegen Extreme", steht da. Der Wind weht hier weder von links, noch von rechts, sondern aus der goldenen Mitte. So zumindest die Idee.
Laut Agenda fordert die Organisation von Washington zum Beispiel, die Gesundheitskosten zu senken, Migranten ohne Papiere die Einreise zu verweigern, das Waffenrecht zu wahren, aber zu regulieren – ein buntes politisches Potpourri also. Wie sich die Gruppe diese Strategie des "gesunden Menschenverstands" (so heißt das entsprechende Manifest) in der Praxis vorstellt, wird nicht immer klar. Spaltthemen wie Abtreibung bieten wenig Raum für Kompromisse.
No Labels entstand 2010. Damals waren Dutzende erzkonservative Republikaner der sogenannten Tea-Party-Bewegung ins Repräsentantenhaus einzogen, um jeden einzelnen Gesetzesentwurf von Präsident Barack Obama zu torpedieren. Sie waren dagegen, um dagegen zu sein. Die No-Labels-Gründer setzten sich daraufhin aus Gemäßigten beider Parteien zusammen. Sie waren auf der Suche nach der verschollenen politischen Mitte. In der größeren der beiden US-Kammern bildeten No-Labels-Abgeordnete aus beiden Lagern den "Problem Solvers Caucus". Diese "Problemlöser-Vereinigung" sollte Kompromissbereitschaft über Ideologie stellen, Auswege finden, wo die Extreme versagten. So oder so ähnlich lautet der Gründungsmythos.
An der Spitze der Bewegung steht heute Geschäftsführerin Nancy Jacobson, eine ehemalige Finanzvorsitzende des Demokratischen Nationalkomitees. Den Vorsitz teilen sich der ehemalige demokratische Senator Joe Lieberman, der Bürgerrechtler Benjamin Chavis und der frühere republikanische Gouverneur von Maryland, Larry Hogan.
No Labels mag mit dem hehren Ziel gestartet sein, eine politische Brücke zu bauen, unterliegt jedoch denselben undurchsichtigen Zwängen wie jeder politische Akteur. Und Politik kostet Geld. Ein Bericht des Magazins "Mother Jones" listet 36 Spender auf – Gönner, die schon Hunderttausende, gar Millionen Dollar nach rechts und links verteilt haben. Wer wieviel spendet, das verrät die Gruppe nicht – weil sie es nicht muss. Denn auf dem Papier ist No Labels keine Partei, sondern eine überparteiliche Bewegung.
Nun will diese Bewegung das erste Mal aus dem Schatten treten und aktiv in das Rennen um das Weiße Haus einsteigen.
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"Wir bauen die Startrampe" – No Label selbst will keinen Kandidaten aufstellen, nur die Voraussetzungen schaffen
"Washington arbeitet nur für Washington. Wir arbeiten daran, das zu ändern", behauptet man bei No Labels. Das klingt eigentlich nach dem rechtspopulistischen Klassiker, wonach "die da oben" das amerikanische Volk im Stich lassen. No Labels geht aber einen Schritt weiter: Die Amerikaner seien sowohl Biden als auch Trump leid – ihnen fehle bloß die Alternative. Das belege eine von der Bewegung eigens in Auftrag gegebene Umfrage.
Praktischerweise erkennt die Gruppe nicht nur ein Problem, sie stellt auch eine Lösung in Aussicht: Ein neutraler Bewerber, ein "Einheitskandidat" soll die Brücke zwischen den verfeindeten Lagern legen und das Wahlvolk versöhnen. Als "Versicherungspolice" bezeichnet No Labels den Ansatz.
Doch, damit die Zentristen überhaupt vom großen Wurf träumen können, müssen sie erst einmal auf dem Radar erscheinen. Dazu bemühen sie sich, in allen 50 Staaten auf den Wahlzettel zu kommen – bisher hat sie es in vieren geschafft. 400 Leute soll die Gruppe auf der Jagd nach den nötigen Unterschriften quer durchs Land schicken.
Aber eines soll klar sein: No Label selbst will offiziell weder einen Wahlkampf führen, noch finanzieren. Es gehe lediglich darum, einen Drittkandidaten auf den Stimmzettel zu bringen. Chefstratege Ryan Clancy vergleicht das mit der Arbeit der Nasa: "Wir bauen die Startrampe", sagt er. "Wenn ein Kandidat nominiert wird, muss er die Rakete bauen, um ins Weiße Haus zu kommen". Der ".org"-Ansatz ist ein mächtiger Schild. Aus gutem Grund: Denn als NGO unterliegt die Gruppe nicht den offiziellen Regeln der Wahlkampffinanzierung und muss ihre Geldgeber nicht offenlegen.
Der mögliche No-Label-Präsident Joe Manchin
Bleibt die Frage, für wen No Labels denn besagte "Startrampe" zimmern könnte. Im Gespräch war unter anderem die parteilose Senatorin Kyrsten Sinema, der Ko-Vorsitzende Larry Hogan – oder eben Joe Manchin. Der Senator aus West Virginia machte vergangene Woche Schlagzeilen, als No Labels ankündigte, er werde als Stargast auf einer von der Gruppe gesponserten Veranstaltung in New Hampshire auftreten, bei der man das 60-seitige neue Grundsatzprogramm vorstellen will. Mit einem Mal brodelte die Gerüchteküche gewaltig. Die Location, das Saint Anselm College’s Institute, hat Symbolcharakter: Hier findet in einem halben Jahr die erste republikanische Vorwahl statt.

Manchin ist nicht nur deswegen die wahrscheinlichste Wahl, weil er ein bemerkenswert konservativer Demokrat und mit seinen 75 Jahren alt genug ist. Er war auch selbst schon Ko-Vorsitzender der Gruppe. Bis spätestens März will sich die NGO zu Manchin bekennen. Oder zu jemand anderem. Oder zu niemandem. Man werde einen Rückzieher machen, "wenn die Umfragen darauf hindeuten, dass wir für eine der beiden Parteien der Spielverderber wären", versprach No-Labels-Chefin Nancy Jacobson.
Und Manchin selbst? Der schließt nichts aus. Spekulationen über ein gemeinsames Rennen mit dem Jon Huntsman, dem republikanischen Ex-Gouverneur von Utah, seien allerdings verfrüht. "Wenn ich antrete, dann werde ich auch gewinnen ", sagte er am Montag in dem gut gefüllten Saal in New Hampshire. Sollte er das tatsächlich ernst meinen, würde er Donald Trump zumindest in Sachen Selbstbewusstsein Konkurrenz machen.
Vermutlich geht es Manchin in Wahrheit nicht darum, befördert zu werden, sondern darum, seinen aktuellen Job zu behalten. Denn 2024 wählen die Amerikaner nicht nur einen neuen, alten Präsidenten, sondern bestimmen in elf Bundesstaaten auch Senatoren. Und in seiner Heimat West Virginia, die Manchin derzeit in Washington vertritt, ist es gerade keine gute Zeit, Demokrat sein. Mit einer Bewerbung um das Weiße Haus unter neutraler Flagge dürfte Manchin um das Wohlwollen der konservativen Wähler hoffen.
Links hat Angst vor der Mitte: Ein Drittkandidat könnte Joe Biden den Wahlsieg kosten
Aber mal ehrlich: Ist es überhaupt wichtig, ob im Schatten der Titanen Biden und Trump noch jemand die Hand hebt? Es gibt doch einen guten Grund, warum seit Wählergedenken jede Präsidentschaftswahl maximal ein Duell war. In den vergangenen rund 150Jahren kam jedes US-Staatsoberhaupt aus den Reihen der Demokraten oder Republikaner. Der einzige Mann, der es ganz ohne Partei an die Spitze schaffte, war ein gewisser George Washington.
Soviel sei orakelt: 2024 wird in dieser Hinsicht keine Überraschung. Und doch ist es wichtig, ob noch jemand die Hand hebt. Denn, egal wie klein dessen Schatten auch ist: Der unetikettierte Kandidat könnte einem der Titanen ein Bein stellen.
Als No Labels Anfang des Jahres bekanntgab, dass man womöglich einen eigenen Kandidaten ins Rennen schicken würde, spaltete das ironischerweise die Mitglieder. Die Demokraten in der Problemlöser-Clique monierten, das würde am Ende nur Trump in die Hände spielen. Womit sie vermutlich nicht ganz unrecht haben. Denn ein No-Labels-Kandidat würde unweigerlich unter den gemäßigten und Nicht-Wählern fischen – Stimmen, auf die Biden schielt. Sollte das Rennen 2024 ähnlich knapp werden wie vor vier Jahren – und davon ist auszugehen – wäre Biden in den entscheidenden Swing States auf jede Stimme angewiesen. "Um eine nationale Wahl zu gewinnen, müssen die Demokraten drei von fünf gemäßigten Wählern für sich gewinnen", sagt Jim Kessler, Vizepräsident des Thinktanks Third Way gegenüber dem US-Magazin "Vox".
Nicht nur links der Mitte löst der Gedanke an ein größeres Kandidatensortiment Bauchschmerzen aus. Als Reaktion auf die Veranstaltung am Montag kündigten bekannte Demokraten und Republikaner an, eine neue Gruppe mit dem Namen "Bürger zur Rettung unserer Republik" zu bilden – nur, um No Labels zu bekämpfen. William Galston, Forscher am renommierten Brookings Institute und No-Labels-Mitgründer kehrte "seiner" Bewegung sogar den Rücken, als die Gruppe offen über einen Kandidaten nachdachte.
So viel Gegenwind ließ sich freilich nicht ignorieren. Am 1. Mai veröffentlichten die beiden Ko-Vorsitzenden Lieberman und Chavis eine gemeinsame Erklärung. Die Überschrift: "Donald Trump sollte nie wieder Präsident werden."
Was soll und was wird, das sind allerdings zwei Paar Schuhe. Oder drei.
Quellen: "New Yorker"; "Washington Post"; "Politico"; "Vox"; "New York Times"; "Mother Jones"