In einem Jahr steigt die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Von Euphorie ist im Gastgeberland aber absolut nichts zu spüren. Nach der Niederlage im Testspiel gegen Kolumbien hatte man wohl oder übel eine Phrase im Ohr, die man eigentlich nur aus dem Abstiegskampf in der Liga kennt: "Wir melden uns vom Abgrund." Viel schlimmer kann es nicht werden.
Doch trotz der teilweise desaströsen Leistungen in den Begegnungen spürt man bei vielen Fans weder Wut, noch Zorn oder Trauer – sondern das schlimmste, das einer Mannschaft in dieser Situation entgegenschlagen kann: Gleichgültigkeit. Testspiel gegen Polen, die Ukraine oder Kolumbien? Ist doch eh Wurscht, geht ja ohnehin um Nichts.
Deutschland gegen Kolumbien: Statt Wut herrscht Gleichgültigkeit
Die katastrophalen Spiele dieser Woche sind nur der vorläufige Tiefpunkt einer Nationalmannschaft, die sich seit dem WM-Titel 2014 selbst zu finden versucht. Als Fan könnte jetzt das große Zittern beginnen. Nur noch ein Jahr bis zur Heim-EM. Die sollte doch das neue Sommermärchen werden. Nach dem peinlichen Vorrunden-Aus 2018 und bei der unsäglichen Wüsten-WM in Katar steht der Fußball-Nation Deutschland das nächste Fiasko ins Haus. Doch statt mit erhobener Faust sitzen viele nur noch mit einer abwinkenden Handbewegung im Stadion oder vor dem Fernseher.
Die Gleichgültigkeit ist verständlich. Man könnte an dieser Stelle das große Fass aufmachen, dass sich die National-Elf von den Fans entfernt hat. Dass kaum ein Spieler noch als Identifikationsfigur taugt oder dass es doch eine Ehre sein müsste, das Deutschland-Trikot tragen zu dürfen und man sich deshalb, mindestens kämpferisch, zerreißen muss. Doch ähnlich wie die Fans wirken auch die Spieler dieser Tage lustlos, mutlos, antriebslos – eben: gleichgültig. Testspiel gegen Polen, die Ukraine oder Kolumbien? Ist doch eh Wurscht, geht ja ohnehin um Nichts.
Vielleicht ist es für die junge Spielergeneration nicht mehr das Allergrößte, den Adler auf der Brust zu tragen
Vorwerfen kann man diese Einstellung den Spielern aber ebensowenig wie den Fans. In der Liga würde jetzt das Schreckgespenst "Mentalitätsproblem" herumgeistern. Fans und Nationalmannschaft sind erschöpft – vor allem mental. Seit der mehrwöchigen Pause während der Corona-Pandemie ist der Fußball-Terminkalender so voll, wie früher die Stadien, wenn Deutschland spielte. Und alle Beteiligten wirken, als ob sie einfach nur ein paar Wochen nichts vom Fußball wissen wollen. "Scheißegal-Einstellung" als Selbstschutz.
Und vielleicht muss man auch den Gedanken zulassen, den die alten Recken von Matthäus bis Effenberg, die sonntags im deutschlandweit übertragenen Stammtisch sitzen, sich überhaupt nicht vorstellen können: Möglicherweise ist es für die junge Spielergeneration nicht mehr das Allergrößte, für Deutschland zu spielen und dass sie sich nicht die Lunge aus dem Leib rennen, nur weil sie den Adler auf der Brust tragen. Identifikation mit seinem Land kann man niemandem aufzwingen.
Der ewige Pathos des "wir könnten doch, wir müssten doch, wir sind doch 2014 Weltmeister geworden" erdrückt die Spieler zunehmend. Wenn in einer solchen Gemengelage statt Erfolgserlebnissen auch noch immer wieder Rückschläge und ein internes Hin und Her wie um den Ex-Sportdirektor Oliver Bierhoff hinzukommt, sieht man das Ergebnis irgendwann auf dem Platz. Und daran kann auch ein Trainer wenig ändern.
Hansi Flick ist nicht das Problem, aber er verstärkt es
Hansi Flick, schon beinahe als Messias gefeiert, sollte der "Mannschaft" endlich wieder Leben einhauchen. Nach den zuletzt bleiernen Jahren unter Jogi Löw sollte mit Quintupel-Hansi doch alles besser werden. Mit den Bayern hatte er in einem Dreiviertel Jahr alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Und die Hälfte der Nationalmannschaft sind doch Bayern-Spieler – das kann doch nur gut gehen.
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Nach nicht einmal zwei Jahren muss man konstatieren: Unter Flick ist Manches anders geworden, aber Vieles schlechter. Nun liegt diese Entwicklung nicht allein am Trainer, er verstärkt sie aber. Die Mannschaft ist offensichtlich (noch) nicht bereit, sich auf seine Spielidee einzulassen und (noch) nicht in der Lage, sie umzusetzen. Das muss ein Trainer eigentlich erkennen. Stattdessen zieht Flick sein System der Dreierkette gnadenlos durch, obwohl das Team sich sichtlich unwohl damit fühlt. Für Sicherheit sorgt man damit nicht.
Die vermutlich beste Nachricht nach dieser Testspiel-Woche ist: Die Nationalmannschaft hat noch ein Jahr Zeit, um aus einem erwarteten Fiasko eine Erfolgsgeschichte zu machen. Unmöglich ist das nicht. Das Team ist stark genug, der Trainer ist gut, aber: Beide Seiten müssen aufeinander zugehen. Vielleicht stellt Flick dann sein System um, oder die Mannschaft verinnerlicht es. Nach der Sommerpause werden die Spieler wieder frischer im Kopf sein – und dann auch ein anderes Gesicht auf dem Platz zeigen.