Je nachdem, ob McLaren-Mercedes tatsächlich innerhalb einer Woche gegen die Benzinproben von BMW und Williams und damit gegen das offizielle Rennergebnis Protest einlegt, ob dieser dann vom Automobilverband FIA zugelassen wird, und ob das Berufungsgericht der Klage tatsächlich entsprechen würde. Rutscht Hamilton so von seinem siebten auf den vierten Platz hoch, wäre er mit 112:110 Punkten gegenüber Raikkönen doch noch Champion. Aber: Wer will schon so Weltmeister werden?
Die Formel 1 ist nach einem grandiosen Finale wieder auf den Randstreifen abgebogen, auf dem sie sich in dieser Saison leider so oft tummelte: Würde Lewis Hamilton der Titel nachträglich am Grünen Tisch zuerkannt, dann wäre es fast ein logischer Schlusspunkt des kuriosesten Rennjahres der Geschichte. Aber ein höchst kontraproduktiver. Statt sich eines lachenden und schweigenden Dritten zu freuen, bestimmt weiter Unsicherheit das Geschehen und beschädigt das Image der Formel 1 als ein Sport, in dem offenbar alles möglich ist und zum guten Schluss nicht mal mehr ein eindeutiges Rennergebnis zählt, weil die Regeln so undurchsichtig sind.
"Nicht hundertprozentig sicher"
Die Vorgänge in der Nacht nach dem Titelrennen kulminieren in der Frage: Nimmt denn diese Saison nie ein Ende? Offenbar nicht. Wie die Entscheidung der Juristen aus der Silberpfeil-Fraktion auch ausfallen mag, ob Vernunft oder Rachegelüste siegen - 2008 wird ein Jahr der großen Revanchen. Vielleicht ergibt sich schon in dieser Woche im internen vertraglichen Poker zwischen McLaren und Fernando Alonso die nächste Wende… Den schwarzen Peter scheinen Ron Dennis und Norbert Haug in diesem Jahr nicht mehr los zu werden. Eine Saison zwischen Zweifel und Verzweiflung. Mit Vernunft allein kommt man im vergifteten Klima an der Formel-1-Spitze anscheinende nicht mehr weiter.
Neben dem Siegerpokal in einem abgesperrten Eck der Ferrari-Box stand am Sonntagabend eine Flasche stilles Wasser. Sekt oder Selters - bange sechs Stunden musste Räikkönen warten, bis er zumindest von den Rennkommissaren Tony Scott Andrews, Antonio Vasconcelos und Elcio de Sao Thiago den "Gültig"-Stempel für seinen lang ersehnten ersten WM-Titel bekam. Als wenn es der Finne, der mit seinem sechsten Saisonsieg bei einem gleichzeitigen Fehler-Hattrick des Favoriten Lewis Hamilton (vergeigtes Überholmanöver, verrückt spielende Getriebeelektronik, falsche Reifenstrategie) ein durchaus würdiger Champion ist, geahnt hätte. "Ich war nicht hundertprozentig sicher", bekannte er auf die Frage, warum es so lange gedauert habe, bis die Freude auf der Auslaufrunde richtig aus ihm heraus brach, "es ist ganz schwer zu realisieren, dass ich wirklich Weltmeister bin."
Champagner-Nachschub von McLaren-Mercedes
Während sich der überehrgeizige Verlierer und momentane Vize-Weltmeister Hamilton erstmal in den Katakomben von Interlagos verkrochen hatte und verzweifelt von der zum Trost entschlossenen Naomi Campbell gesucht wurde, riefen die Rennkommissare zweieinhalb Stunden nach dem Rennen die Teammanager von BMW-Sauber und Williams zu sich. Der saarländische Technikdelegierte Jo Bauer hatte bei Routine-Benzinproben Abweichungen fest gestellt. Laut Reglement darf der Sprit, der in die Brennkammern gespritzt wird, nicht kühler sein als die Außentemperatur minus zehn Grad. Beim Viertplatzierten Nico Rosberg betrug die Differenz zwölf und 13 Grad, bei Robert Kubica 13 und 14 Grad, bei Nick Heidfeld zwölf und 13 Grad. Die Proben der ebenfalls geprüften Rennwagen von Ferrari und McLaren-Mercedes waren innerhalb des Limits. Eine Leistungssteigerung ist mit der stärkeren Kühlung nicht verbunden, zumal die extremen Temperaturen von Interlagos manche Rechnung zunichte machen konnten. Aber den Regelverstoß gegen Paragraph 6.5.5 des technischen Reglements gab es, deshalb wurde verhandelt. Nach dreieinhalb Stunden kam der Freispruch, begründet mit der Diskrepanz zwischen den offiziellen Temperaturmessungen des Formula One Managements (FOM) und den Angaben des Wetterdienstes Meteo France, der alle Teams bedient. Im Zweifel für die Angeklagten, entschied das Funktionärstrio, das sich in seiner Meinung zuvor aber auch nicht ganz einig gewesen schien. Zumal es einen weiteren Streitpunkt gibt: Gemessen werden müsste der Sprit eigentlich am Einfüllstutzen des Tanks (wo er schon deutlich wärmer ist) und nicht an der gekühlten Tankanlage. Eine technische und juristische Spitzfindigkeit, die aber prima in die aufgeheizte Atmosphäre passt. Die einzige Panne in den Reihen des Formel-1-Weltmeisters, der im entscheidenden Moment einfach voll da war, passierte erst nach der Siegerehrung. Bei der improvisierten Party in der Box ging der Champagner aus. Den Nachschub lieferte McLaren-Mercedes…