Blau und Weiß und Dortmundgelb und Bayernrot und Gladbachgrün - alles Schwarz und Weiß. Schwarz und Weiß auf den Bildern, die das Öffentlich-Rechtliche zeigt, jetzt zum Jubiläum, 40 Jahre Bundesliga, rauf und runter. Reporter, die aufgeregt brüllen. Dabei hatten die sonst gar nichts Wernerhanschmäßiges, sondern beteten Spielzüge runter, als läsen sie aus einem Intercity-Fahrplan vor. Gab's damals schon einen IC?
Wurscht. Du siehst - schwarz und weiß - rauchende Männer auf den Rängen mit triefenden Hutkrempen, Anzug und Krawatte darunter, selbstverständlich, denn es ist Feiertag, es ist Fußballsamstag. Du weißt, sie haben nur zwei Anzüge im Schrank, einen fürs Hochamt am Samstag halbvier, Schalke gegen München Sechzig vielleicht, den anderen fürs Hochamt am Sonntag, halbzehn, Lobet den Herrn! Daran denkst du jetzt vor dem Fernseher. Hast das letzte Mal geheult so vor schätzungsweise 100 Jahren, als du beim Pausenraufen in der Volksschule vom feisten Heinz-Peter eins in die Schnauze kriegtest, und danach nie wieder, weil Jungs nicht heulen und Männer schon gar nicht, auch nicht bei der Geburt der Kinder, nicht mal auf dem Friedhof, als sonst alle schluchzen mussten. Aber jetzt, ganz allein vor dem Fernseher, die alten Bilder; und die Suppe läuft dir über die Backen und du kannst nichts machen: Scheiße, es ist nun mal zum Heulen. Zum Heulen traurig, aber auch zum Heulen schön. Die Bundesliga. Ohne Fußball wäre das Leben so grau wie ein ewiger November.
November, weißt du noch? Dein erstes Spiel überhaupt. Schalke- Hannover, im grauen elften Monat des Jahres 1965. Du siehst erst gar nichts, bist viel zu klein und die Jungs neben dir auch. Und dann heben euch Hände über den Zaun, und die Männer in langen Mänteln auf der Holzbank am Spielfeldrand rücken für euch zusammen. Schutzmänner nennen wir sie ehrfurchtsvoll. Schutzmänner in den Sechzigern riechen nach feuchtem Leder und Pferd und Tabak. Vor uns pflügen sich schwere Spieler über den Rasen in engen Leibchen, zum Anfassen nahe, kein Zaun dazwischen und kein Stacheldraht. Die Glückauf-Kampfbahn in Gelsenkirchen-Schalke dampft im Dunst von Regen und Zigaretten, und dann bebt sie, als Günther Herrmann das 1 : 0 schießt. Die Blauen siegen, und du wünschst von nun an, dass jeder Tag ein Samstag sei.
Wenn denn Samstag ist und Heimspiel, gibt's erst Sauerkraut und Kartoffelpürree oder Reibekuchen, und dann stehst du zweieinhalb Stunden vor dem Anpfiff an den schwarzen Kassenhäuschen, Taschengeld hast du keins, und wartest auf einen "Onkel", der dich mitnimmt. Einer, der eine teure Tribünenkarte gelöst hat und so tut, als gehörtet ihr zusammen; auf eine Tribünenkarte lässt der Ordner den Neffen auch durch. Du kommst immer rein. Und brüllst dir dann die Knabenkehle wund, dass du noch montags zu heiser bist fürs "Vaterunser" beim Religionsunterricht.
An den Samstagen dazwischen, den Auswärtssamstagen, hängst du am Radio. WDR 2: "Jochen Hageleit in Gladbach, Jochen, steht die Leitung?" Lernst von ihm und den anderen Rundfunkrecken allerdings schnell, dass es da draußen bessere gibt als deine biederen Schalker, die einzig und allein ihr "Stan" ziert: Reinhard "Stan" Libuda, der dribbelt und dribbelt zum Niederknien und sich leider später im Leben so furchtbar verdribbelt. Die anderen aber haben nur gute Spieler und obendrauf den eleganten Beckenbauer, den fintenreichen Grabowski, den schnellen Held, den furchtlosen Seeler und den langen Netzer. Und immer wieder Müllermüllermüller, "kleines dickes Müller", Gerd Müller, den auf ewig gewaltigsten aller Mittelstürmer, der 365 Tore schoss in der Bundesliga, in einer Saison allein 40 und bestimmt eine ganze Menge gegen Schalke.
Manche gerade dann, wenn du zuhörst. Keine Schule ist härter als das - wenn du mitkriegst am Radio: sechs Stück in München, sieben Stück in Dortmund, acht Stück in Köln, elf in Mönchengladbach, elf!, wie fulminante Haken an die Schläfe. Doch du schaffst es samstags drauf wieder ins Stadion. Neues Spiel, neues Glück. Bundesliga.
"Tooor für den FC Bayern!", ruft Oskar Klose ins Mikro. Schon wieder. Du hast Herzrhythmusstörungen und bist gerade erst elf, jedenfalls klopft es nicht da, wo es sollte, und nicht so, wie es sollte, sondern hüpft an der Kehle und ist dann weg und trommelt plötzlich wie blöd im Bauch. Da musst du selber raus, auf dem Bolzplatz vor der Kirche wird talentfrei getobt, und die Dicken und die Doofen müssen dann Dortmunder sein oder Bayernschweine, und wir sind die Guten. (Doof, dass die Guten nicht immer gewinnen.)
Mit Schlammkrusten auf den Knien und auf Buffern geht's dann noch schnell in die Kirche, da liegt der alte Pastor aufgebahrt. Der war zu Lebzeiten ein strenger Mann. Aber er hatte immerhin den Nigbur getauft, Schalkes besten Torwart aller Zeiten, und daher ein bisschen Kredit bei uns. Nigbur, 23 Jahre jung, plötzlich schier unbezwingbar. Auswärts gibt's wenig Klatschen mehr, und daheim zaubern langmähnige Kerls einen Ball, wie ihn Schalke seit dem Kriege nicht mehr gesehen hat. Himmelsstürmer, zur Winterpause drei Punkte vor Bayern, Saison einundsiebzigzweiundsiebzig. Jeder will sie sehen, kommst nicht mehr rein mit den "Onkels", bist zu groß und dazu im Stimmbruch und hast kein Geld. Musst deshalb über die Mauer klettern, hinten, zweieinhalb Meter hoch und dann runterspringen zwischen lauter pinkelnde Männer. Pissoir der Glückauf-Kampfbahn, Geheimtipp und einzige Chance, umsonst die Helden bewundern zu können. Geht ein Jahr gut mit den Helden, und dann sitzen die meisten von ihnen mit ihren "Sweet"-Haarschnitten plötzlich vor Gericht. Betrogen haben sie siebzigeinundsiebzig, beschissen, mindestens ein Spiel verkauft. Und lügen noch jahrelang mit erhobenen Fingern.
"FC Meineid" brüllen die anderen nun, wenn sie kommen, uns zu demütigen, und "Willst du mal scheißen und hast kein Papier, dann nimm doch die Fahne von Schalke Nullvier." Wir ducken zusammen in unserer Wagenburg und hoffen wie die Cowboys, dass die Indianer endlich verschwinden. Wir dichten die Lügen unserer Zauberer zu Notlügen um und ihre Dummheit zur Heldentat wider den DFB. In der Schule streiten wir über Anstand und Moral in der Politik; Willy Brandt muss bald gehen, Ostpolitik, Radikalenerlass; wir streiten mit rechtem Eifer oder linkem Sendungsbewusstsein - doch Ehre und Redlichkeit im Fußball, "datt issen anderet Ding". Schalke eben. "Da musse dabei bleiben, bei deinen Verein, scheißegal." Right or wrong, my club.
Nur Kumpel Klaus geht dann irgendwann doch von der Fahne. Später in den Siebzigern. Nach Dortmund. Singt von nun an mit der Borussia, unvorstellbar. Wie eine Nonne, die Puffmutter wird. Hat bis heute eine Dauerkarte da. Was der wohl fühlt, wenn er die alten Bilder sieht? Keine Ahnung. Die Bayern stürmen derweil über die Liga, Beckenbauer im Zenit seines Schaffens, der getreue Knappe Schwarzenbeck an seiner Seite, Maier und Müller, Hoeneß und Breitner. Die grandiosen Gladbacher halten dagegen, so gut es geht; Netzer, Heynckes, Simonsen und Jensen, hinten putzen Vogts und Klinkhammer vor dem lustigen Keeper Kleff. Goldene Siebziger.
Dann befällt bleierne Zeit den Fußball. Die Spieler tragen Frisuren wie Pudel und Schnauzer wie Handfeger, fahren mit Prollschleudern zum Training und verweigern hochnäsig Autogramme. Dein Verein verkommt zur Randnotiz, hat nochmals lichte Momente und ein paar große Spieler, Klaus Fischer nach der Meineidsperre, nur Müller war besser, der wuselige Abramczik, "Flankengott", der melancholische Linksaußen Erwin Kremers, der so schnell war, dass ihn die Bertivogtsepigonen, die Sensenmänner, triezten und füllten, bis er die Lust am Spiel verlor.
Vizemeister noch einmal, doch ein eisiger Wind fegt schon durchs neue Stadion und nicht nur hier: überall stehen jetzt die schrecklichen Arenen, das Park- und das Volkspark-und das Neckarstadion, hässliche Schüsseln, architektonische Todsünden wie die Neue-Heimat-Bauten in den Städten. Es zieht erbärmlich, wenn's nicht voll ist - und es wird nicht voll. Die besten Spieler der Liga wandern ins Ausland, die Kicks sind in etwa so aufregend wie die Musik von Duran Duran oder Heinz Rudolf Kunze. Und zum ersten Mal lässt du für eine Fete ein Spiel sausen; WDR 2 muss auch nicht mehr sein. Reicht ja, wenn man's Ergebnis abends erfährt. Der HSV gewinnt sowieso dauernd unter dem genialen Ernst Happel und mit Kevin Keegan, der "Mighty Mouse" aus England. Später macht's Werder eine Spielzeit lang richtig gut, Otto Rehhagel auf der Bank und "Pannen-Olli" im Tor, Oliver Reck, bevor die Bayern wieder Maß aller Dinge werden. Die Lücken bleiben in den Stadien, selbst nachdem Deutschland wieder Weltmeister wird 1990. Schalke kickt zwischendrin in der Zweiten Liga gegen Charlottenburg und Darmstadt.
Es sind die privaten Fernsehsender, die den Fußball aus der Kältestarre erlösen. Sie inszenieren das Spiel nun grell, bunt und manchmal unfassbar bekloppt. So wie die Popsender der Neunziger die Musik und, ja, die Politik sich selbst. Der Kanzler geht, wenn's Wähler bringt, erst mit dem gelb-schwarzen BVB-Schal ins Stadion und morgen mit dem roten nach Cottbus.
Die Bundesliga wird trendy in ihrem vierten Jahrzehnt. Kann sein, dass "ran" sie alle zum Haareschneiden geschickt hat, es gibt keine Pudel mehr, die Profis sehen schnieke aus, selbst Glatzen werden sexy; nur Harry Koch aus Kaiserslautern schmuggelt seinen Minipli in die Jetztzeit. Klar, das Privatfernsehen pumpt Geld in den Fußball wie blöde, aber mählich füllen sich die Stadien, mählich verschwinden die hässlichen Schüsseln und machen prächtigen Arenen Platz. Keiner wechselt mehr ins Ausland, im Gegenteil: Erst kommen die guten Tschechen, dann die besseren Brasilianer, nun gar ein großer Holländer.
Und, "ran" sei Dank, ist der Spaß zurck. Vielleicht auch, weil die Kinder groß sind und Zeit ist für die bedeutenden Dinge des Lebens. Samstags um halb vier muss das Radio plärren. "Hallo, Stuttgart?" Deine Pumpe schlägt wieder Purzelbäume und manchmal ist es nicht zum Aushalten, und dann drehst du das Radio leise und rennst wie irre durchs Wohnzimmer, vier Schritte vor und vier zurück und machst den Videotext an, immer noch einszwo hinten, Dreckdreckdreck, und draußen schlendern Paare verliebt durch die Sonne, als wenn nichts wär, spinnen die jetzt oder du? Ist doch Bundesliga. Einszwo geblieben, kann ja ein heiteres Wochenende werden. Meister wirst du nicht mehr in diesem Leben, das ist mal klar.
Einmal allerdings Meister der Herzen. Fast 36 Jahre nach Schalke-Hannover, einsnull Herrmann, stehst du auf der Tribüne, weit, weit weg vom Rasen, wo 50 000 blauweiße Kuttenträger auf die Anzeigetafel schauen und sehen, wie Patrik Andersson hoch oben beim HSV für die Bayern zum einseins trifft und uns mitten in die Magengrube, ach was: ins Hirn, in die Nieren, in die Eier. Bayern Erster, Schalke Zweiter. Später gehst du kilometerlang an kümmerlich gekrümmten Gestalten vorbei, sie halten sich fest aneinander und an der Dose Pils und grollen und wehklagen. Macht nur die Bundesliga, so was. Sind BVB-Fans mal traurig? Die wenigstens immer dann meisterfeiern dürfen, wenn die Bayern Husten und Schnupfen und die Beulenpest haben zugleich in einer Saison. Denken die Schwarz-Gelben zurück an ihre Kampfbahn "Rote Erde", zurück an längst vergangene Zeiten, als sie noch Schalke schlagen konnten?
Du träumst. Mephisto, im schwarzgelben Dress der Borussia, will deine Schalker Seele haben. Für sechs Richtige heute abend. "Kohle ohne Ende", sagt er. "Nie wieder arbeiten." Hau ab! Du wirst in der Woche weiter arbeiten und samstags weiter zittern. Bitte. Noch 40 Jahre. Mindestens.