Selbstverständlich rannte er zuerst zu den Fans, sprang über die Absperrung, ballte wie entfesselt die Faust und feierte mit den knapp 3000 mitgereisten Dortmunder Fans im Stade Vélodrome in Marseille sein Tor. Kevin Großkreutz hatte gerade das erlösende Siegtor zum 2:1 gegen Olympique erzielt, und das erst in der 86. Minute. Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine Rettung in (fast) letzter Minute. Bei einem Unentschieden wäre Dortmund aus der Königsklasse geflogen und hätte als letztjähriger Champions-League-Finalist in der zweitklassigen Europa League weiter kicken dürfen.
Es wäre ein Supergau für die Truppe von Jürgen Klopp gewesen. In der Liga sind die Dortmunder, gebeutelt durch eine Verletzungsmisere und schwache Auftritte, weit hinter die Bayern zurückgefallen. Das frühzeitige Scheitern hätte fast alle Saisonziele früh zunichte gemacht. So aber bleibt Dortmund international im Geschäft und die Mannschaft kann zum Regenerieren in die nahende Winterpause gehen.
Klopp: Einfach geil
Mit dem Tor des Dortmunder Urgesteins änderte sich die Situation in der Gruppe F schlagartig. Weil Arsenal London in Neapel verlor, zog Dortmund sogar als Gruppenerster in das Achtelfinale ein, punktgleich vor Arsenal als Tabellenweiter und Neapel, das raus ist. "Das fühlt sich super gut an, einfach geil", sagte Trainer Klopp sichtlich mitgenommen. Der Spieler des Abends war ebenfalls überglücklich: "Das war ein geniales Gefühl. Wir wären raus gewesen. Das ist eine Riesensache. Das haben sich alle verdient. Dabei habe ich den Ball gar nicht richtig getroffen." Großkreutz war bei seinem Schuss von der Strafraumgrenze ausgerutscht und traf die Kugel nur im Fallen, die zum Glück der Dortmunder in der linken, unteren Torecke landete.
Das Stolpertor war eine besondere Pointe in einem "nervenaufreibenden" (Klopp) Spiel, das sich gleich hinter der mittlerweile legendären Partie gegen Malaga in der vergangenen Saison einreihen wird. Da drehten die Dortmunder im Viertelfinale innerhalb von einer Minute in der Nachspielzeit einen Rückstand in einen Sieg. Dass es diesmal wieder so knapp wurde, hatte sich der BVB selbst eingebrockt. Reihenweise hatten sie zuvor Großchancen versiebt. "Wir waren alle 30 Sekunden im Strafraum, irgendwann darf auch mal ein Ball reingehen", beschrieb Klopp das Geschehen auf dem Platz salopp.
Zu den besonderen Wendungen im Herzschlag-Thriller von Marseille zählte nicht nur, dass ausgerechnet der Dortmunder Junge Großkreutz seinem Team einen bedeutenden Erfolg in einer schwierigen Saisonphase rettete. Zum Plot des Abends gehörte ebenso, dass Klopp einen 18-Jährigern auf die Innenverteidiger-Position stellte. Marian Sarr gab nicht nur sein Debüt in der Champions League, sondern er spielte zum ersten Mal überhaupt in der ersten Elf des BVB. Das muss man sich erst mal trauen, einen blutjungen Drittligaspieler in einer so bedeutenden Partie aufzustellen, allerdings blieb Klopp angesichts der Personalsituation auch kaum eine andere Alternative. Der Hochbegabte erledigte seine Sache außerordentlich souverän. Und der 21-jährige Erik Durm, der wieder als Vertreter des verletzten Marcel Schmelzer auflief, spielte diesmal nicht nur solide, sondern auffällig mutig, vor allem in der Offensive. Durm gab den präzisen Pass auf Robert Lewandowski, der in der vierten Minute zur frühen Führung traf.
Weidenfeller patzt schwer
Für Rückschläge und Fehler waren diesmal die großen Helden vergangener Erfolge verantwortlich. Zum Beispiel Roman Weidenfeller, der im nächsten Kapitel im Mittelpunkt stand. Der Keeper leistete sich beim vollkommen überraschenden Ausgleich zehn Minuten später einen veritablen Patzer, als er an einem Freistoß vorbeisegelte. In der Folge blieb Dortmund zwar überlegen, spielte aber fahrig in der Offensive und zu unpräzise bei den vielen Kontermöglichkeiten.
Dann schlug das Pendel wieder zu Gunsten der Dortmunder aus. Nuri Sahin setzte im Strafraum zu einer riskanten, aber sauberen Grätsche gegen Dimitri Payet an, der sofort fiel. Als alle schon mit einem Elfmeterpfiff rechneten, zeigte der kroatische Schiedsrichter dem Franzosen die gelb-rote Karte. Wegen einer Schwalbe. Eine harte, aber vertretbare Entscheidung. Payet war so außer sich, dass er die Eckfahne in zwei Teile trat - auch das muss man erst mal schaffen.
Das nächste Kapitel lief unter der Überschrift "Vergebene Torchancen". Was Dortmund in der zweiten Halbzeit an Torchancen vergab, trieb allen Fans Tränen in die Augen: Lewandowski traf das leere Tor nicht, Marco Reus nur den Pfosten und Jakub Blaszczykowskis Kopfball klärte Marseilles Torwart Steve Mandanda knapp vor der Linie. Da war sie wieder, die mangelnde Torausbeute der Dortmunder, die sich wie ein roter Faden durch die Saison zieht.
Drehbuchreifes Happy End
Zu einem echten Thriller passt es, dass die Helden vor dem Finale den letzten Rückschlag erhalten, der die Situation schier ausweglos erscheinen lässt. Das war der Fall, als Arsenal in Neapel in Rückstand geriet. Solange es im parallelen Gruppenspiel unentschieden gestanden hatte, war Dortmund mit seinem Remis als Tabellenzweiter in der nächsten Runde. Durch Neapels Führungstreffer war der BVB pötzlich doch raus. Zu allem Unglück wurde ihnen in dieser Situation ein glasklarer Elfmeter verweigert, als Mandanda Lewandowski einfach umrammte. Es war der letzte Rückschlag, bevor Großkreutz mit seinem Tor für ein drehbuchreifes Happy End sorgte.