In der 90. Minute zerstörte Fernando Torres mit seinem Treffer zum 2:2 endgültig Barcelonas Traum von der ersten Titelverteidigung in der Champions League. Wenige Augenblicke später pfiff der Schiedsrichter die Partie ab, und da gab es einen dieser Momente, die das Stadion Camp Nou zu einem echten Fußballtempel machen. Die knapp hunderttausend Zuschauer auf den steilen Rängen klatschten Beifall – er galt in erster Linie dem Gegner FC Chelsea London, der mit zehn Mann als Sieger aus dem Duell im Champions-League-Halbfinale hervorging, und für ein Spiel, das durch seine Dramatik und das Spektakel lange in Erinnerung bleiben wird. Es war Beifall für eine große Fußball-Oper, in der zwei Spielsysteme aufeinander prallten, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Die schöne Kunst der katalanischen Ball-Ästheten traf auf die zerstörerische Wucht der englischen Fußballarbeiter – und unterlag. Torschütze Torres bekannte: "Natürlich war es nicht schön. Im Fußball gewinnt nicht immer der Favorit oder die bessere Mannschaft. Barcelona ist die beste Mannschaft der Welt - das war für uns die Extra-Motivation."
90 Minuten war das Team von Trainer Pep Guardiola gegen das Tor der Londoner angerannt, die konsequent ihrem Zerstörungswerk nachgingen und dabei große Verluste hinnehmen mussten. Der Preis für den Erfolg: Sechs gelbe Karten und eine rote. Mit Kapitän John Terry, Ramires, Branislav Ivanovic und Raul Meireles werden Chelsea vier Stammkräfte im Finale am 19. Mai fehlen. Der Platzverweis für Abwehrrecke Terry war die mit Abstand dümmste Aktion des Spiels. Terry, der schon im Endspiel 2008 in Moskau zur tragischen Figur geworden war, als er den entscheidenden Elfmeter verschoss, hatte abseits des Spielgeschehens in der 37. Minute Alexis Sanchez das Knie in den Rücken gerammt – Schiedsrichter Cünet Cakir blieb gar nichts anderes übrig, als den erfahrenden Profi des Feldes zu verweisen.
Barcelona glaubt sich auf der Siegerstraße
Was Terry in dem Augenblick durch den Kopf gegangen ist, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Ungläubig starrte er auf den Schiedsrichter und marschierte danach mit versteinerten Gesichtszügen in die Kabine. Zu diesem Zeitpunkt führte Barcelona bereits hochverdient mit 1:0 und Terry schwächte sein Team durch die Dummheit noch zusätzlich. Es gab wohl niemanden außerhalb des Rasens, der in diesem Moment an einen Erfolg für Chelsea glaubte – außer den Spielern der "Blues", die sich auch ohne ihren Kapitän weiter eine knappe Stunde mit Haut und Haaren gegen das Offensivfeuerwerk des Favoriten wehrten. Dabei war den Engländern jetzt die komplette Innenverteidigung abhanden gekommen. In den Anfangsminuten hatte sich Terrys Kollege in der Innenverteidigung, Gary Cahill, verletzt und war ausgewechselt worden. Aber auch die Gastgeber waren bereits geschwächt. Ihr Abwehrchef Gerard Pique war unglücklich mit Barca-Keeper Victor zusammengeprallt war – das Spiel stand von Beginn an unter einem besonderen Stern.
Der Verlust von Pique, für den Dani Alves in die Dreier-Abwehrkette rückte, verhinderte aber nicht, dass Barcelona wild entschlossen gegen die tiefstehenden Londoner anrannte. Wie im Handball umkreisten sie phasenweise den Strafraum des Gegners. Lionel Messi allein scheiterte vor dem Führungstreffer mit zwei Großchancen. In der 35. Minute brach Sergio Busquets schließlich den Bann. Nach Vorarbeit des jungen Issac Cuenca schob er den Ball ins Tor – der Abwehrriegel der "Blues" war das erste Mal geknackt. Als kurz nach dem Platzverweis Andres Iniesta auf 2:0 erhöhte, hatte Barcelona die 0:1-Niederlage aus dem Hinspiel erfolgreich wettgemacht und stand zu diesem Zeitpunkt im Finale.
Messi vergibt die große Chance
Doch keine zwei Minuten später schlugen die Londoner zurück. Wie aus dem Nichts bediente Frank Lampert Ramires mit einem feinen Pass. Der Brasilianer lief allein auf das Tor zu und überwand Torwart Valdez mit einem gefühlvollen Heber. Chelsea hatte mit zehn Mann zurückgeschlagen und war plötzlich wieder im Vorteil. Der Spielverlauf war auf den Kopf gestellt.
Kurz nach Wiederanpfiff ereignete sich die Schlüsselszene des Spiels. Die Bayern, die heute Abend (ab 20.45 Uhr im stern.de-Liveticker) im zweiten Halbfinale gegen Real Madrid antreten, werden sehr gut nachempfunden haben, was sich in der 49. Minute ereignete. Es gab Strafstoß für Barcelona, Messi trat an und knallte die Kugel an die Latte. Die Chance auf das 3:1 war vergeben. Wahrscheinlich werden einige Bayern-Profis Arjen Robben auf die Schulter geklopft haben. Der Niederländer weiß nach dem Spiel gegen Dortmund, wie sich das anfühlt. Dennoch werden die Münchner kaum Mitleid gehabt haben. Chelsea ist trotz des Erfolges gegen Barcelona sicherlich der leichtere Gegner im Finale.
Letzte Chance für die Veteranen
Bei den Katalanen saß der Schock über die vergebene Großchance tief. Der Faden im Kombinationsspiel riss, trotzdem hatten sie durch Cuenca (62.) und Messi (83.), der mit einem Distanzschuss ein zweites Mal am Aluminium scheiterte, weitere Chancen, doch ein Treffer sollte nicht mehr gelingen. Phasenweise standen die Gäste mit zehn Mann im Strafraum. Selbst Stürmer Didier Drogba, die einzige Spitze und neben Ashley Cole, Lampard, Terry und Keeper Petre Cech, aus der alten Garde Chelseas, war zuvor häufiger an der eigenen Grundlinie zu finden als im Angriff. Sie tricksten, verzögerten und foulten. Sie gingen an die Grenze dessen, was möglich ist, und trieben Messi und Co. zur Verzweiflung. Dann schlug Torres in der letzten Minute des Spiels zu, als er einen letzten Konter erfolgreich abschloss.
Das Champions-League-Finale ist wahrscheinlich die letzte Möglichkeit für die "Blues"-Veteranen, endlich den ersehnten, großen Titel zu gewinnen. Die Londoner stehen in der Premier League nur auf dem 6. Platz. In der nächsten Saison wartet höchstens die Europa League. All die großen Namen würden ohne internationalen Erfolg ihre Karriere beenden – eine Ansammlung von Unvollendeten. Außerdem werden sie an die bittere Niederlage im Halbfinale 2009 gedacht haben. Damals hatten die Spanier auf dramatische Weise nur durch ein umstrittenes Tor von Iniesta in der 93. Minute gewonnen. Das setzt Kräfte frei: "In der Kabine sind gerade alles etwas ausgeflippt", sagte Chelseas spanischer Mittelfeldspieler Juan Manuel Mata. "Es schien so, als würde alles gegen uns laufen. Aber am Ende haben wir uns zusammengerissen und für unseren Traum gekämpft."
Barcelona hatte an diesem Abend gefühlte 99 Prozent Ballbesitz, doch die Schönheit ihres Offensivfußballs scheiterte am puren Willen der Londoner und ihrer gnadenlosen Betontaktik. Es gewinnt die Mannschaft, die mehr Tore schießt. Auf so grausame wie eindringliche Art hat sich diese Fußballweisheit noch nie bewahrheitet. Das haben die Zuschauer im Camp Nou honoriert, als sie allen Akteuren, aber ganz besonders den Profis der "Blues", ihren Applaus spendeten. Wer die "beste Mannschaft der Welt" besiegt, hat es immer verdient.