"Ein Land wird narrisch!" So lautete die Überschrift des "Wiener Kurier" am 7. Juni zum Auftakt dieser Europameisterschaft. Seit Donnerstagabend, 22.34 Uhr, trifft dieser Ausspruch uneingeschränkt zu. Es war der Moment als der englische Schiedsrichter Howard Webb im vollbesetzten Ernst-Happel-Stadion ein Trikotziehen des Polen Marek Lewandowski am Österreicher Sebastian Prödl mit einem Strafstoßpfiff ahndete, der gebürtige Kroate Ivica Vastic den Elfmeter humorlos in die Maschen jagte. Der 38-Jährige, ältester Akteur dieses Turniers, vollbrachte damit Historisches in mehrerer Hinsicht: Das erste EM-Tor für Österreich sicherte dem Gastgeber das 1:1 und damit den ersten Punkt in diesem Turnier. Zudem avancierte Vastic zum ältesten EM-Torschützen aller Zeiten. Nun genügt ein Sieg am Montag gegen Deutschland im Wiener Ernst-Happel-Stadion, um doch noch "aufzusteigen", wie es in Österreich heißt. Und dann wäre plötzlich der Außenseiter in der nächsten Runde, der Favorit gescheitert.
Und wie sehr der Vastic-Volltreffer ("Ich habe mich nur auf Schuss konzentriert") die Begeisterung in dem Land befeuerte, war in der übervollen Fanzone, den U-Bahnstationen oder Kneipen deutlich zu vernehmen. "Deutschland ist nur ein Punktelieferant"; "Deutschland, Deutschland alles ist vorbei" oder "Immer wieder Córdoba" waren die Gassenhauer der Nacht, zigfach, tausendfach gesungen und gegrölt - nichts würde für mehr Entrücktheit sorgen, als ein Triumph gegen den großen und ungeliebten Nachbarn. "Österreich wird am Montag brennen", kündigte ÖFB-Präsident Friedrich Stickler zu nächtlicher Stunde im Kursalon Hübner an, "wenn beide Veranstalters nach zwei Spielen ausgeschieden wären, hätte das für die Stimmung des Turniers nichts Gutes bedeutet. Diese Konstellation ist eine göttliche Fügung."
"Córdoba ist ein Teil unserer Geschichte"
Für den Österreichischen Fußball-Bund, für das ganze Land. Damit stellt sich unweigerlich die Frage: Wiederholt sich die Geschichte doch? 30 Jahre nach Córdoba kommt es zu einem echten Endspiel Österreich gegen Deutschland. Doch bei der EM 2008 gibt es einen entscheidenden Unterschied zur WM 1978. Anders als in Argentinien würde ein Sieg die rot-weiß-rote Auswahl diesmal in die nächste Runde bringen. "Damals", betont auch Josef Hickersberger immer wieder, "hat dieser Sieg uns nichts gebracht, denn wir waren ja schon ausgeschieden." Damals saßen die Spieler übrigens im selben Flieger von Córdoba nach Buenos Aires - Österreichs Helden und Deutschlands Deppen. Kann es auch diesmal so kommen? "Wir wollen uns nicht in Tagträumen verlieren", sagt Stickler, "aber die Bombenstimmung kann einiges bewirken."
Dem Match fiebern die aktuell kickenden Protagonisten entgegen - voller Optimismus. Und so hielten sich Vastic und die jüngeren Kollegen auch gar nicht überflüssig lange in der feudalen Begegnungsstätte des Wiener Stadtparks auf, sondern bestiegen alsbald den Bus, der die Entourage wieder zurück ins Quartier nach Stegersbach brachte. Schon im Bauch des Ernst-Happel-Stadions hatte Kapitän Andreas Ivanschitz, der erstaunlicherweise für Vastic den Platz räumte, klargestellt, was von seiner Mannschaft erwartet wird: "Córdoba ist ein Teil unserer Geschichte. Wir als junge Spieler wollen ein eigenes Córdoba schaffen."
Beenhaker hadert mit Elfmeter
Dazu müsste man allerdings die Chancen besser nutzen, als das gegen Polen der Fall war. Martin Harnik zweimal und Christoph Leitgeb standen in der stürmischen Anfangsphase jeweils völlig frei vor Artur Boruc, brachten den Ball aber nicht am vorzüglichen polnischen Torwart vorbei. Es kam, was kommen musste: Der eingebürgerte Brasilianer Roger Guerreiro brachte die Gäste mit dem ersten ernstzunehmenden Angriff - allerdings aus Abseitsposition - in Führung (30.). Für Guerreiro, erst seit wenigen Wochen und auf Intervention des Staatspräsidenten persönlich in Besitz eines polnischen Passes, war es eine besondere Genugtuung, aber trotz seiner Wahl zum "Man of the Match" war der polnische Brasilianer nicht zufrieden: "Ich würde gerne die Trophäe zurückgeben und die drei Punkte nehmen."
Lange, ganz lange hatte es nämlich nicht den Eindruck, als könnte Österreich das Blatt noch wenden, zumal Referee Webb ein textiles Vergehen im Strafraum an Ivanschitz nicht ahndete (47.). Doch dann gab der Engländer einen Strafstoß in der Nachspielzeit, den man nach solchen Ringereinlagen geben kann, aber nicht geben muss. Mit dem Pfiff brachte er den Niederländer Leo Beenhakker gegen sich auf: "Er ist ein großer Junge, der viel Mut bewiesen hat. Da hat jemand ein bisschen gestoßen, aber man gibt diesen Elfmeter nicht in der 91. Minute. Das verstehe ich nicht", schimpfte Polens Nationaltrainer auf Webb. Der 65-Jährige hatte größte Mühe die Fassung zu bewahren, "für mich ist die Schlussfolgerung, dass wir mit diesem Elfmeter aus dem Turnier sind." Die Polen besitzen zwar noch eine theoretische Möglichkeit aufs Viertelfinale, "doch im Grunde war ein Sieg unsere einzige Möglichkeit", beschied Beenhakker.
"I wer' narrisch!"
Ganz anders nahm erwartungsgemäß Hickersberger die Szenerie war - für ihn, der einst am 21. Juni 1978 in Córdoba sein 39. und letztes Länderspiel absolvierte, ist das Spiel gegen Deutschland ein Geschenk des Himmels. "Für mich ist das ein ganz besonderes Spiel, weil ich wunderschöne Jahre in der Bundesliga bei Fortuna Düsseldorf und Kickers Offenbach verbracht habe." Der österreichische Teamchef wollte jedoch nichts von einem Befreiungschlag wissen: "Wir sind ein freies Land, deshalb brauchen wir keine Befreiung mehr." Typisch "Hicke" - seinen feinsinnigen Humor bewartet er nach Tragödien wie nach Triumphen. "Wir sind alle sehr glücklich", sagte er, "was gibt es denn Schöneres, als in dieser Situation gegen Deutschland zu spielen."
Nur mit dem berühmten C-Wort will Hickersberger bitteschön nicht konfrontiert werden. "Die Geschehnisse vor 30 Jahren spielen überhaupt keine Rolle mehr. Die sind verarbeitet und vergessen." Wirklich? Warum zogen in der gestrigen Nacht selbst serbische Taxifahrer an einer Schnur eines kleinen Plastikspielzeugs, das scheinbar in Österreich jeder besitzt. Was nach dem Ziehen passiert? Es ertönen die legendären Sätze von Edi Finger: "Da kommt Krankl...in den Strafraum - Schuss ... Tooor, Tooor, Tooor, Tooor, Tooor, Tooor! I wer' narrisch. Krankl schießt ein - 3:2 für Österreich! Meine Damen und Herren, wir fallen uns um den Hals; der Kollege Rippel, der Diplom-Ingenieur Posch - wir busseln uns ab. 3:2 für Österreich durch ein großartiges Tor unseres Krankl."