Am Ende können sie in der "Chic Lounge" in der Oranienstraße doch noch von ihren Barhockern aufspringen, sich umarmen und in ein aufgekratztes "Türkiye, Türkiye"-Rufkonzert verfallen - der Sieg ist da. Gehofft hatten sie schon, damit gerechnet nur geheim. "Wir wollen unser Gesicht wieder zurück, wir sind keine Barbaren", sagt die junge, türkische Barangestellte hier und spielt damit auf das Jahr 2005 an. Richtig, Türkei-Schweiz – da war doch was. Großkeilerei nach dem WM-Qualifikationsspiel im November. Umso wichtiger wogen die Worte jetzt, drei Jahre später, von Trainer Fatih Terim: "Wir kommen als Freunde."
Und so ist auch die Stimmung an diesem Abend. Die Spieler beider Teams laufen sich warm, noch eine halbe Stunde bis zum Spiel, der Himmel in Basel verheißt nichts Gutes. Rund um die Oranienstraße, dem Epizentrum der türkischen Gemeinde in Berlin, werden die ersten C-Klasse-Mercedese geparkt, Fähnchen entrollt und knallrote T-Shirts mit dem Aufdruck "Türkiye" freigelegt. Rote Welle in Kreuzberg. "Wir haben die gleichen Nationalfarben", sagt Dilber Demirol, ein weiblicher Fan, "eigentlich sind wir uns nah!" Als kurz darauf im Baseler Stadion die türkische Nationalhymne ertönt, zeigt sie auf ihre Gänsehaut - "Wir sind noch fußballverrückter als ihr Deutschen!" Sollte es gut ausgehen für ihre Mannschaft, prophezeit sie "ein bisschen Radau" im Kiez. "Aber der ist eigentlich nur gute Stimmung."
Der Poldi der Eidgenossen trifft
Auch links und rechts der "Chic Lounge" ist man gespannt, aber hält sich bedeckt. Deutsch-türkisch gemischte Fangemeinden nur im juvenilen "Bateau Ivre" am Heinrichplatz, meist bleibt man unter sich. In der "Bar 39 Lounge" sitzen türkische Pärchen lieb beieinander - das könnte auch das Saalpublikum sein von "Nur die Liebe zählt". In Basel regnet es jetzt Strippen, die Spieler pflügen sich durch den Rasen - eine dramatische Szenerie. Die kippt ins Depressive, als die Schweiz in der 32. Minute das erste Tor schießt. Und dann ausgerechnet Hakan Yakin, der Poldi der Eidgenossen. Türke mit Schweizer Pass.
Er hält sich mit seinem Jubel zurück, das schätzen sie hier. Aber dennoch: Hinter dem Tresen der türkischen Pizzeria "Piccola Romantica" versteinern die Mienen, "Scheiße" zischt der Chef und wendet sich wieder der Calzone im Ofen zu. In die Halbzeit geht's also mit Frust. Das nutzen junge Kurden, um ihren Konflikt mit den Türken anzuheizen. Sie skandieren "Schweiz, Schweiz" vorm Zentrum Kreuzberg in der Adalbertstraße, Flaschen fliegen, Böller knallen. Leichte Handgemenge am Rand - deutscher Besoffski gegen türkischen Heißsporn - aber keine Randale.
Großer Jubel, als Semih in der 57. Minute ausgleicht. Torchancen ohne Ende jetzt für die türkische Mannschaft. Im Oranienkiez wiederholt es sich nun in einem Fort: aufbrandender Jubel, vergeigte Torchance, Zurücksinken in die Lauerstellung. Auch in der "Chic Lounge" geht es so weiter, während in den Aschenbechern Berge heranwachsen.
Dann haben Dilber Demirol und ihre Bekannten doch noch Grund, von verhaltener Freude in glückliche Raserei zu verfallen. Quasi in letzter Minute, schon in der Nachspielzeit, semmelt Arda ein sensationelles zweites Tor durch den Schweizer Strafraum, der Sieg ist da. Schlagartig beginnt das Hupkonzert auf der Oranienstraße. Golf GTI, eingepackt in die türkische Nationalflagge, preschen vorbei. Rasseln werden geschwungen, Deutsche umarmt, die Triumphfahrt Richtung Kudamm begonnen. Der Druck ist weg, "die Schande von Istanbul" wieder wettgemacht.