Als die Spieler in den rot-weißen Trikots mit dem Halbmond auf der Brust nach dem Sieg im Elfmeterschießen gegen Kroatien siegestrunken über den Platz im Wiener Ernst-Happel-Stadion tollten, griff der türkischstämmige Schriftsteller Feridun Zaimoglu in Kiel zum Telefonhörer. Er wollte seinem in die Heimat zurückgekehrten Vater zum 76. Geburtstag gratulieren. Der 43-Jährige erinnert sich an das Gespräch: "Mein Vater sagte, dass der Sieg das schönste Geschenk sei." Dann wurde es laut in der Leitung: "Er brüllte ins Telefon: Am Mittwoch schlagen wir euch zu Klump." Zaimoglu entgegnete: "Vater, davon träumst du nur. Wir schicken euch nach Hause."
Eine Familie, zwei Sichtweisen auf das EM-Halbfinale Deutschland gegen die Türkei. So wie bei den Zaimoglus wird das Duell um den Finaleinzug vermutlich bei vielen Deutsch-Türken gemischte Gefühle auslösen. Im Interview mit spricht der Autor des preisgekrönten Romans "Leyla" über die Bedeutung von Fußball in beiden Länder und erklärt, weshalb er sich selbst als "Salon-Hooligan" bezeichnet.
Herr Zaimoglu, Deutschland kämpft am Mittwoch gegen die Türkei um den Einzug ins EM-Finale. Sie sind in der Türkei geboren, leben aber seit ihrem ersten Lebensjahr in Deutschland. Wem drücken Sie die Daumen?
Deutschland. Meine Eltern sind vor 13 Jahren in die Türkei zurückgekehrt. Für sie war klar: Sie waren Türken, und sie bleiben Türken. Aber es ist auch klar, dass meine Schwester und ich Deutsche sind - ihre deutschen Kinder.
Zur Person
Feridun Zaimoglu wurde am 4. Dezember 1964 in Bolu (Türkei) geboren. Ein Jahr später zog er mit seinen Eltern nach Deutschland. Seine Jugend verbrachte der heute 43-jährige Schriftsteller und bildende Künstler in Berlin und München. Seit 1985 wohnt Zaimoglu in Kiel. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Liebesbrand". Für sein literarisches Werk hat der Autor zahlreiche Preise erhalten (unter anderem Friedrich-Hebbel-Preis, Adelbert-von-Chamisso-Preis und Grimmelshausen-Preis). Als sozialkritischer Journalist schaltet Zaimoglu sich mit Gastbeiträgen in den Medien immer wieder in aktuelle politische Debatten ein.
Gefährdet das Thema Fußball jetzt den Familienfrieden?
Nein. Ich spreche immer von den bösen Blutgrätschen, auf die man gefasst sein sollte. Mein Vater entgegnet darauf, dass die Deutschen erst mal wieder an die alten, glorreichen Zeiten anknüpfen sollten, als er selbst noch mitgefiebert hat. Ich antworte, dass doch etwas falsch läuft, wenn man sich wie gegen Tschechien erst zwei Tore einfängt, um erst später spektakulär aufzutrumpfen. Er sagt dann nur, ich hätte vom Fußball überhaupt keine Ahnung und sei ein "Salon-Hooligan" - womit er übrigens recht hat. So geht es immer hin und her.
Was ist denn ein "Salon-Hooligan"?
Das ist einer, der nicht wie die knallharten Experten weiß, wann und in welchem Jahr welche Spieler auf der Reservebank gesessen haben. Oder einer, der die Abseitsfalle nicht richtig kapiert hat. Er ist aber gerne dazu bereit, den Schiedsrichter zu beschimpfen. Eben jemand, der bei sich zu Hause rumbrüllt und die eigene Mannschaft anfeuert.
Wie sieht es mit Ihren eigenen fußballerischen Fähigkeiten aus?
Ich stand meist wie ein Depp vorn rum und habe gewartet, dass mich jemand anspielt. Die Bälle selbst erkämpfen? Nicht mein Spiel. Ich habe eine richtige Witzfigur auf dem Rasen abgegeben, als lauffauler, untalentierter Mittelstürmer. Trotzdem habe ich intensiv gekickt. Ein Tag ohne Fußballspielen war unvorstellbar. Mittlerweile ist meine Karriere aber vorbei. Zwei Schachteln Zigaretten am Tag sind zu viel.
Welche Bedeutung hat der Fußball für die Türkei und den Nationalstolz?
Fußball ist die Möglichkeit, Legenden zu bilden. Das ist nicht nur Kampf und Krieg auf der Rasenfläche, sondern auch die Möglichkeit, wirklich bis zum Äußersten zu gehen. Für alle Zivilisten ist das die Gelegenheit, die Sau raus zu lassen - um es mal salopp zu sagen. Das ist in der Türkei nicht anders als in Deutschland oder Spanien. Es wird immer gesagt, dass die Südeuropäer temperamentvoller seien.
Stimmt das Ihrer Meinung nach?
Na ja, das, was ich bei der WM 2006 in Deutschland oder jetzt bei der EM gesehen habe, überzeugt mich eher davon, dass Temperament auch bei den deutschen Tifosi vorhanden ist.
Oft ist die Rede von den sogenannten deutschen Tugenden. Oder man sagt, die deutsche Elf sei eine Turniermannschaft. Der türkische Trainer Fatih Terim wiederum betont gern, dass seine Spieler nie aufgeben würden. Kann man über das Auftreten einer Fußballmannschaft auf den Charakter einer Nation schließen?
Ich bin da ein bisschen vorsichtig. Das sind ja alles auch Kampfansagen. Man versucht gern, über den Fußball auf Mentalitäten zu schließen. Das tun wir, die auf das Feld gucken. Das tun aber auch die Trainer, die damit ein gewisses Bild ihrer Mannschaft vermitteln. Das sind alles Deutungen, die sowohl richtig als auch falsch sind. Aber man müsste schon blind sein, um nicht zu sehen, dass die türkische Mannschaft in drei Spielen in allerletzter Minute das Ding noch gedreht hat. Das ist auf der einen Seite eine Stärke, nämlich bis zuletzt zu kämpfen. Andererseits könnte man aber auch sagen: Warum haben sie sich zuvor das Tor eingefangen. Oder wieso gab es diese eklatanten Torwartfehler?
Das Spiel birgt jede Menge Brisanz. Befürchten Sie, dass es zu Ausschreitungen auf den Fanmeilen kommt?
Es gibt unter allen Fangruppen Idioten, die alles zum Anlass nehmen, nicht nur ein Triumphgeheul anzustimmen, sondern auch auf andere Leute loszugehen. Ich hoffe nicht, dass diese zum Zuge kommen. Das ist eine Schweinerei. Gewaltszenen sind das Allerletzte. Dann wäre mir das Spiel verdorben. Das Gemeckere über die anderen gehört dagegen in einem gewissen Maße dazu.
Welches Verhältnis haben Sie zu Ihrem Geburtsland?
Ich liebe dieses wunderschöne Land meiner Eltern. Ich liebe die wunderbaren Menschen, die dort leben. Aber immer wenn ich in der Türkei bin, bin ich ein Tourist. Das ist mein Status. Ein gut informierter und fließend türkisch sprechender Tourist aus Deutschland. Wenn ich dort bin, freue ich mich und bin entspannt. Dann aber wird es wieder Zeit, in meine Heimat, nach Deutschland, zurückzukehren.
Was fühlen Sie, wenn Sie die Türkei bei der EM spielen sehen?
Lukas Podolski hat es vorgeführt oder Hakan Yakin für die Schweiz genauso. Es ist klar, dass man ein Tor für seine Mannschaft schießt, es ist aber genauso klar, dass man nicht unbedingt jubelnd über den Platz rennt. So ähnlich wird es auch bei mir sein. Es ist klar, für wen ich die Daumen drücke. Es ist aber auch so, dass ich den großartigen Jungs der türkischen Mannschaft alles Gute wünsche. Als die Türkei gegen die Schweiz gespielt hat, war ich seltsam angewandelt, weil vorne in der Spitze zwei türkisch stämmige Schweizer gespielt haben. Seltsam ist es bei Hamit Altintop. Er ist ein "Deutschländer", spielt aber für die türkische Nationalmannschaft. Wo man also hinguckt, kann man ein bisschen melancholisch werden.
Abschließend noch Ihr Tipp?
Gucken wir uns unsere Jungs gegen Österreich an - gewonnen ist gewonnen. Das Spiel Deutschland gegen Portugal? Großartig! Je nachdem, in welcher Form unsere Mannschaft aufläuft - davon hängt es ab. Ich hoffe, dass nach dem Sieg gegen Portugal der Knoten geplatzt ist. Wenn man die vier Spiele der Türken nimmt, kann man sagen: Wenn sie solche Lücken in der Abwehr haben, das Mittelfeld nicht so organisieren und früh gestört werden, dann könnten wir mit 2:0 gewinnen.