Ist das Spanien-Rätsel gelöst? Oder gerade nicht? Portugal wählte im EM-Halbfinale einen innovativen taktischen Ansatz und zeigte, dass man tatsächlich mit "mutigem" Spiel gegen den Weltmeister bestehen kann. Kaum einmal konnte Spanien sein gewohntes Spiel aufziehen, was für die Taktik von Paulo Bento spricht.
Andererseits blieb die Roja im nun neunten KO-Spiel in Folge ohne Gegentor. Portugal hatte in 120 Minuten keinen Schuss aufs Tor, was fürs Elfmeterschießen reicht, aber natürlich nicht zum Sieg. Zum Thema Elfmeterschießen haben wir nach dem Viertelfinale schon genug gesagt, aus aktuellem Anlass die Ergänzung zum Thema Cristiano Ronaldo: Der Weltstar war, allem Anschein nach, als fünfter Schütze auserkoren worden. Er kam dann aber gar nicht mehr zum Zug, weil Cesc Fábregas bereits für Spanien alles klar gemacht hatte.
Ein Patzer der portugiesischen Taktik? Nicht unbedingt. Die Überzeugung, der beste Schütze solle zuerst antreten, um so für Sicherheit zu sorgen, wird durch Untersuchungen der Wissenschaftler Geir Jordet, Esther Hartman, Chris Visscher und Koen A Lemmink widerlegt, die im Journal of Sports Sciences 2007 veröffentlicht wurden. Demnach wird der erste Strafstoß im Elfmeterschießen am häufigsten verwandelt (zu etwa 87 Prozent), danach nimmt die Wahrscheinlichkeit (mutmaßlich wegen des größeren Drucks) deutlich ab, der vierte Elfmeter ist nur noch in 72,5 Prozent aller untersuchten Elfmeterschießen erfolgreich.
So gesehen hätte Ronaldo höchstens als Vierter statt als Letzter antreten sollen. Aber dass man den besten Schützen nicht starten lässt, macht durchaus Sinn. Tragisch war dieses Ende natürlich dennoch, aber wie schon betont, wollen wir uns im Wesentlichen auf das Unentschieden in den 120 Minuten konzentrieren und nicht auf die psychologischen Feinheiten des Elfmeterschießens.
1) Portugals Pressing im Mittelfeld: Die Vorteile
Ganz anders als Frankreich im EM-Viertelfinale (und England gegen Italien) zogen sich die Portugiesen nicht bis dicht vor den eigenen Strafraum zurück, um dort mit vereinten Kräften die Angriffe des überlegenen Gegners in geordnete Bahnen zu lenken. Portugal (das noch gegen Deutschland wesentlich tiefer verteidigt hatte), erhob vielmehr Anspruch auf die gesamte Mittelfeldzone und schob sowohl seine von Pepe exzellent organisierte Viererkette als auch das Dreiermittelfeld um Miguel Veloso weit nach vorne.
Damit konnte Spanien lange Zeit überhaupt nicht umgehen. Die gewohnten Dreiecke wollten einfach nicht auf dem Rasen von Donetsk erscheinen, weil die Portugiesen wie von Zauberhand oft Überzahl in Ballnähe hatten. Zur Halbzeit warfen die Statistiken von Soccernet erstaunliche Ergebnisse aus: Nicht weniger als acht Spieler von Paulo Bento hatten ihre durchschnittliche Position in der spanischen Hälfte gehabt. Lediglich Pepe und Bruno Alves hielten sich meist hinter der Mittellinie auf.
Die Folge davon war, dass vor gleich alle drei spanischen Mittelfeldspieler nicht wie gewohnt ins Spiel kamen. Xabi Alonso wurde in viele Zweikämpfe verstrickt, Xavi tauchte für seine Verhältnisse ab, und vor allem Sergio Busquets wurde seiner wichtigen Rolle als erste Anspielstation aus der Abwehr im spanischen Spielaufbau beraubt. Dadurch sah man erschreckend viele unkontrolliert und unspanisch nach vorne geschlagene Bälle.
2) Portugals Pressing im Mittelfeld: Die Nachteile
"There's no such thing as a free lunch", schrieb der amerikanische Ökonom Milton Friedman in den 1970er Jahren und meinte damit, dass es im Leben nichts geschenkt gibt. Auch ohne die eher neoliberalen Auffassungen des Professors zu teilen, kann man diese Redewendung auch auf den Fußball übertragen. Wenn es eine richtige Taktik gäbe, die man ohne Nebeneffekte einfach anwenden könnte, und so Spanien neutralisierte, dann würden es ja alle machen.
Portugals Taktik brachte neben den oben angeführten gewünschten Folgen auch negative Effekte hervor. Vor allem erforderte die Spielweise so einen hohen läuferischen Einsatz, dass man sich schon nach einer halben Stunde fragte, wie die Seleccao das über 90 Minuten durchhalten wollte, geschweige denn über 120. Obwohl Spanien zwei Tage weniger Pause gehabt hatte, konnte die Roja besser mit ihren Kräften haushalten und hatte später in der Verlängerung klare Fitnessvorteile.
Zusätzlich bedeutete das in die spanische Hälfte verlagerte Spiel aber auch, dass Cristiano Ronaldo selten mit Tempo den Ball in den Fuß gespielt bekommen konnte. Portugal beraubte sich so seiner besten Offensivwaffe, um Spaniens Angriffe zu neutralisieren - ein hoher Preis. Hätte Portugal einen internationalen Klassemittelstürmer und einen noch passsichereren Mann hinter den Spitzen gehabt, dann wäre dieses Spiel vielleicht trotzdem zugunsten der Seleccao gelaufen. Aber wenn Portugal einen Topstürmer und einen Regisseur hätte, dann wäre diese Mannschaft auch schon einmal Welt- oder Europameister gewesen.
3) Spanien: Die unendliche Stürmergeschichte
Vicente del Bosque steuerte zur während des Turniers geführten Debatte, ob Spanien mit Stürmern spielen sollte, und wenn ja, mit wem, eine neue Facette hinzu, indem er zur allgemeinen Überraschung Sevillas Álvaro Negredo in die Startelf holte. Der Durchbruch war das nicht gerade, wobei das aggressive portugiesische Spiel seinen Teil zu Negredos Ineffektivität beigetragen haben mag, er bekam kaum verwertbare Anspiele. Doch gerade gegen Raul Meireles, Miguel Veloso und Joao Moutinho wäre ein zusätzlicher Mittelfeldspieler für Spanien sinnvoller gewesen als eine Sturmspitze, die zwar viel läuft, aber keine Bälle an der Mittellinie gewinnt.
Das zeigte sich dann auch nach einer knappen Stunde, als Cesc Fábregas von der Bank kam und Negredo vom Feld musste. Fortan lief das spanische Spiel zumindest etwas besser. Für den Rest der 120 Minuten verzichtete Del Bosque darauf, noch einen zentralen Stürmer einzuwechseln und setzte mit Jesus Navas eher auf mehr Breite im Spiel. Noch sinnvoller war die Einwechslung Pedros kurz vor Ende der regulären Spielzeit, denn der Mann aus Barcelona brachte gegen müder werdende Portugiesen Tempo und Vielseitigkeit auf den Rasen.
4) Die Cero muss stehen
Im Vergleich Spaniens mit Barcelona wird in diesem Turnier immer klarer, was der Vorteil der Auswahl gegenüber dem FCB ist. Der Club mag Lionel Messi haben, aber sein ballbesitzorientiertes Spiel gerät in Schwierigkeiten, wenn vorne keine Tore fallen - siehe die Rückschläge gegen Real Madrid und Chelsea im Frühjahr. Spaniens Stärke aber ist in Wirklichkeit wohl nicht primär eine offensive, sondern eine defensive Qualität.
Zum neunten Mal in Folge blieb Spanien in einem KO-Spiel bei Welt- oder Europameisterschaften ohne Gegentor. Zinedine Zidanes Treffer bei der WM 2006 war das letzte. Wenn man selbst den Ball hat, kann man kein Gegentor kassieren, heißt die simple Wahrheit hinter dieser Statistik. Und wenn man den Ball verliert, holt man ihn sich am besten gleich zurück. So der Normalfall, wenn La Roja spielt. In Donetsk verhinderte Portugal den Normalbetrieb, aber kam, wie erwähnt, zu keinem Abschluss, der Iker Casillas zu einer Parade zwang.
Damit schließt sich der Kreis der Defensivlogik bei der EM 2012: Spanien, die Mannschaft, gegen die alle Teams sich im Ersinnen neuer Abwehrstrategien überbieten, wird durch eine aggressive Taktik in die eigene Hälfte gedrängt - lässt in dieser aber einfach auch keine Torchancen zu. Ergebnis: Das 120-Minuten Patt von Donetsk. So perfekt Portugal seine Taktik auch eingestellt hatte - sie reichte nur, um gegen Spanien zu null zu spielen. Sie reichte aber nicht fürs Finale.
In dem steht jetzt Spanien. Was der Gegner aus Portugals Leistung lernen kann, damit werden wir uns intensiv beschäftigen, wenn wir wissen, ob es nach dem zweiten EM-Halbfinale Deutschland oder Italien ist.
Daniel Raecke