Herr Löhr, Sie haben als Trainer der U21-Nationalmannschaft aufgehört - weil Sie frustriert sind?
Nein. Weil ich mit 59 Jahren noch einmal etwas Neues anfangen will. Aber enttäuscht bin ich. Über die katastrophalen Möglichkeiten für junge Fußballer, sich zu entwickeln. Das mit anzusehen tut weh, denn das Thema liegt mir sehr am Herzen.
Dann müssten Sie doch aufatmen: Der Deutsche Fußball-Bund steckt 20 Millionen Mark in sein neues Stützpunktsystem, jeder Bundesligist muss künftig ein Leistungszentrum unterhalten.
Der massive Geldeinsatz ist ja richtig und schön. Unsere Jugendarbeit war allerdings auch bisher schon sehr gut, die hat internationale Klasse. Das Problem liegt woanders: beim Übergang zu den Senioren. Genau dann, wenn es am wichtigsten wäre, werden unsere Talente im Stich gelassen. Und schmoren bei ihren Clubs auf der Bank. Portugiesen oder Italiener - ich beobachte das ja seit 1978 - sind mit 18, 19 Jahren ausgereift, bei den Deutschen dauert es einfach länger. Aber es gibt heute bei uns zu wenig Förderer. Trainer wie Volker Finke in Freiburg oder Felix Magath in Stuttgart zeigen doch, dass Mut nicht enttäuscht wird. Die Jungen zerreißen sich, wenn sie ihre Chance bekommen.
Sie wollen uns erzählen, in deutschen Clubs schlummerten genügend Talente?
Aber ja. In der jetzigen U21, die leider mit viel Pech in der Qualifikation zur Europameisterschaft ausgeschieden ist, sind viele Spieler mit einem Riesenpotenzial. Und wir haben auch jetzt 18-Jährige, die eines Tages Weltklasse-Fußballer sein könnten.
Vereinsfunktionäre wie Bayerns Karl-Heinz Rummenigge sagen: Dem Nachwuchs fehle die Qualität. Wer wirklich gut sei, setze sich durch.
Das gilt doch nur für außerordentlich Begabte. Wie Sebastian Deisler oder früher Lothar Matthäus. Ich spreche von den 90 Prozent Normalsterblichen, die diese Ausnahmekönner um sich herum benötigen. In der Weltmeister-Elf von 1990 standen auch nur wenige Überflieger, die schon mit 20 Jahren Weltklasse waren. Der größte Schub kommt erst, wenn die Spieler in die U21 kommen - genau dann brauchen die Jungen Wettkämpfe auf hohem Niveau.
Michael Zepek, der beste Abwehrmann der aktuellen U21, wechselte vom Karlsruher SC nach Leverkusen. Statt in der zweiten Liga Stamm zu spielen, kickt er nun bei den Bayer-Amateuren. Sind die Youngster zu geldgeil?
Mit Sicherheit nicht. Die sind bis auf ganz wenige Ausnahmen unglaublich willig und lernfreudig. Ich mag den Michael Zepek, der ist ein Typ. Vielleicht hatte er die vage Hoffnung, den Sprung in die erste Liga sofort zu schaffen. Das Potenzial hat er jedenfalls.
Meinen Sie, Michael Zepek wäre gut genug, schon jetzt bei einem Titelanwärter mitzuhalten?
Wenn man ihm Vertrauen schenkt. Früher hat Hennes Weisweiler den Bernd Schuster so lange gebracht, bis der sich zu einem überragenden Spieler entwickelt hatte. Gut möglich, dass heute einer wie Schuster nicht einmal andeuten könnte, was in ihm steckt. Seit dem Bosman-Urteil 1995 sind die Einsatzzeiten für Nachwuchsspieler in der Bundesliga um 70 Prozent zurückgegangen. An einem Spieltag dieser Saison waren von 198 Profis in den Anfangsformationen 103 Ausländer. Vor Bosman waren das 45, vielleicht 50. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, spielen bald gar keine Deutschen mehr.
Im Volleyball treten die Junioren-Nationalkader in den Bundesligen an. Wäre das ein Modell für den Fußball: ein unabsteigbares »Team 2006«, eine U23-Truppe, die auf die WM in Deutschland hingeführt wird?
Das ist eine sehr attraktive, radikale Idee. Ich bin Praktiker, ich weiß, dass das kaum durchzusetzen wäre. Aber Anstöße sind genug da. Wir brauchen schnell einen großen Konsens der Bundesliga, nur so finden wir eine Lösung. Und zwar eine, die für den DFB und die Vereine zugleich reizvoll ist - sonst funktioniert sie nicht.
Muss nicht erst das Schlimmste eintreten, bis sich etwas ändert: dass die DFB-Elf bei der WM 2002 nur zuschaut?
Ich wünsche es mir nicht. Aber vielleicht wäre das der große Knall. Vielleicht würde dann auch der letzte Bundesliga-Manager aufwachen.
Interview: Rüdiger Barth