Es ist die alte Geschichte vom unüberwindbaren Wächter des Tores, und keiner müsste sie besser kennen als die Griechen, die Enkel der Götter. Am ersten Samstag dieser Olympischen Spiele sind drei-, viertausend von ihnen nach Faliro ausgerückt, ans Meer, mit blau-weißen Fähnchen in den Händen, um ihre Handballer im Sports Pavilion siegen zu sehen. Aber der Weg zum Glück ist dicht, sagenhaft dicht.
Der Wächter 2004 kommt aus fernem Barbarenlande, guckt streng und heißt Fritz.
Er ist der letzte Mann der Deutschen, die zum Auftakt die Gastgeber 28:18 schlagen, einen Gegner, der nichts zu bieten hat als Feuer und Ehrgeiz, chancenlos wie Ägypten am Montag, 26:14. Das reicht nicht für die Deutschen. Die sind kühl, wenn es sein muss, die wissen, wie man gewinnt, die sind Europameister, felsenhart in der Abwehr und jetzt in Athen die Favoriten auf Gold.
Auch, weil sie das wohl beste Torhütergespann haben: Henning Fritz und Christian Ramota. Fritze und Eros, wie ihre Mitspieler sie nennen. Ein Steher und ein Tänzer. Es sind Rivalen, die sich gegenseitig helfen. Das sagt alles über dieses Team, das gleich eine Hand voll Alpha-Männer vereint, Stephan, Schwarzer, Baur, Petersen etwa. Vor der Abreise nach Athen rockten drei ihrer Jungs das ZDF-Sportstudio und bolzten die Dekoration in Stücke. Gleich nach dem Einzug ins Olympische Dorf markierten die Spieler ihr Revier, indem sie ihre Trikots an die Hauswand hängten.
Zwei Tage vorm ersten Match sitzen Fritz und Ramota im Schatten des Dorfcafés, der Wind bläst wie ein Föhn über Athens Norden. Fritz hat eine Wasserflasche vor sich, Ramota einen Kaffee, den er schwarz trinkt. "Schön warm hier", sagt Fritz grinsend, Ramota steckt sich eine Zigarette an und lacht. Zweimal hat er Olympia verpasst, 1996 wegen des Blinddarms, 2000, weil Bundestrainer Heiner Brand sich für Fritz entschied und gegen ihn. Er hatte vor Athen damit gerechnet, dass wieder was passieren würde, er wollte sich nicht freuen. Nun ist er dabei, 31 Jahre alt. Es sind die Spiele seines Lebens. Für Fritz, 29, erst recht.
Er ist mit 1,89 Meter klein für einen Keeper, gilt dennoch seit zwei Jahren als bester Torwart der Welt. Er schleicht o-beinig über das Feld, Panter-Gang auf flachen Sohlen, Pulli über der Hose. Er schimpft gern mit der Abwehr, den Schiedsrichtern, läuft nach Treffern zur Bank, nimmt einen Schluck, bespricht sich mit Ramota, kehrt zurück und grummelt weiter, aber wenn der Gegner kommt, da wird er ruhig. Er macht sich klein. Er steht bis zuletzt da, geduckt. Aus dieser Position schnellt er hervor.
Über die Jahre hat er sich den Ruf eines Zermalmers erarbeitet, nun sucht er den Augenkontakt. Er will die Schützen zum Denken zwingen. "Dann wird's interessant", sagt er und lächelt. "Jeder ist zu verunsichern." Es ist dieses Spiel: Er weiß, dass ich weiß, dass er weiß. Fritz ist darin kaum zu besiegen. Die Griechen verzweifelten an ihm.
Und die Franzosen waren im WM-Halbfinale 2003 geschockt, als er ihren Kreisläufer Bertrand Gille fertig machte. Fritz hat gern einen auf dem Kieker, den er beleidigt, belächelt. "Es macht Spaß, gefürchtet zu sein", sagt er. Und fiese Sprüche, der Trash-Talk, gehören dazu? "Das ist Männersport."
Fünf Millionen Deutsche sahen das EM-Finale im Januar, im September wird Handball die Schalke-Arena füllen. Handball ist wieder attraktiv, ein Hochgeschwindigkeitstanz auf engstem Raum, es fallen doppelt so viele Tore wie vor 20 Jahren. Obwohl die Torhüter gewandter sind denn je.
Aber auch bei Fritz gibt es Spiele, bei denen er ums Verrecken keinen Ball berührt, es gibt solche Tage als Torwart, da bist du nicht Wand, da bist du Luft. Dann kommt der Eros. Viele Teams haben ein Problem, wenn ihr erster Torwart entnervt aufgibt. Die Deutschen haben den Eros.
Der kommt mit Lust aufs Feld. Der ist groß, zwei Meter. Der ist ganz anders als der Fritze. Der tänzelt auf den Zehenspitzen, sein Schopf berührt fast die Latte, den Pulli in der Hose schwenkt er mit den Wogen des Angriffs, von links nach rechts und zurück, die Hand knallt an den Pfosten, dass das Tor zittert, es quietscht in der Verankerung. Für die Dauer des Spiels sind dies die Ränder seiner Welt, und er muss sie spüren.
Sechs Quadratmeter misst der Kasten, und mit der Hand, dem Knie, der Fußspitze erreicht ein Torwart jeden Winkel. Der Ball aber kommt zu schnell zum Reagieren, mit bis zu 140 km/h rast er heran, und jeder Schütze kann Richtung, Härte und Drall im letzten Moment verändern. Dennoch zucken erfahrene Torhüter fast immer in die richtige Ecke - intuitiv. Fritz pokert dabei, Ramota setzt auf die Kraft seines kreativen Chaos. Ständig bewegt er sich, wirbelt beim Schuss mit seinen langen Gräten und ist am besten, wenn er heißläuft.
Ramota ist Profi in Lemgo, vor allem aber Kölner, kann mit jedem, macht alles mit, selbst wenn er wie bei der EM im Karaoke "We are the World" singen muss, in der Megamaxiversion, und er Blut und Wasser schwitzt, er zieht es durch, Ehrensache.
Mit seinem Sport
begann er erst als Teenager, war aber schon mit 21 Jahren Nationalspieler. Jetzt, endlich: Olympia. "Ich weiß, dass ich meine Chance bekomme", sagt er, "dann werde ich da sein." Kurz denkt Ramota nach: "Ich bin mir nicht sicher, ob es andersherum auch funktionieren würde."
Der andere, das ist die Nummer eins. Gegen die großen Kontrahenten, die Kroaten etwa, auch diesen Sonntag gegen die Franzosen, im letzten Spiel vor dem Viertelfinale, dürfte es Fritz sein, der anfängt.
Der stammt aus Magdeburg, aus einer Sportlerfamilie. Bis er 20 Jahre alt war, teilte er sich mit seiner jüngeren Schwester das Zimmer. Es machte ihm nichts aus, sagt er. Alle dachten, er bliebe ewig beim SCM, dem Klub seines Idols Wieland Schmidt. Doch 2001 ging er nach Kiel und wurde dafür in der Heimat ausgepfiffen. "Für die Reife war die Entscheidung richtig", sagt er. Er redet viel mit den Händen, große Handteller, kräftige Finger. Immer wieder durchbricht unerwartete Freundlichkeit seine zur Düsterkeit neigenden Züge.
Erst in Kiel hat Fritz gelernt, aggressiv aufzutreten. "Die Spannung baut sich auf", sagt er, ballt die Faust, "und dann lässt man sie heraus", er öffnet die Faust, "und dann ist man drin, im Film. Wenn du richtig drin bist, empfindest du auch keinen Schmerz." Im Grunde nehmen Torhüter im Spiel gar nichts wahr. Sie wollen nur den nächsten Ball halten. Und dann den nächsten. Und wieder den nächsten. Fritz sagt: "Scheißegal, was da oben steht, du bist geil auf den nächsten Ball." Und Ramota sagt: "Du musst in den Film reinkommen."
Da wollen Torhüter sein, im Film. Dann sehen sie nichts als die kleinen Signale des Schützen, sie kennen seine Vorlieben, sein Wurfbild, dann spielen sie wie in Trance. Das Happy End ist, von zehn Bällen vier, fünf zu halten. Es ist vor allem, in den letzten fünf Minuten eine Wand zu sein.
Zum Abschied ein Händedruck aus Schraubzwingen, dann kehren Fritz und Ramota zurück in ihr Quartier im Olympiadorf. Kein Nerv mehr zum langen Plaudern, jetzt, wo der Vorspann läuft.
Ende März, in der Vorbereitung, da hat man noch Nerv und Zeit. Fritz sitzt in der Lobby eines Saarbrücker Hotels, im Jackett und mit Brille, da kommen die anderen vom Training, die Hemden sind nass, Schweiß rinnt die Schläfen hinab. Mensch, Fritze!, brüllt Stephan, dann geht's los, Fritz, der Nachzügler, steht auf, einer nach dem anderen drückt ihn, Männerumarmungen, kurz und kräftig und von vielen "Mensch!" begleitet. Auch Ramota herzt ihn.
"Bei den beiden neidet einer dem anderen nichts", sagt Heiner Brand. "Und dieser Geist prägt die ganze Truppe."
Früher hatte Brand
, als er selbst knorriger Abwehrchef war, einen Naseweis namens Andreas Thiel hinter sich, den er herrlich anpflaumte, wenn der wieder in der falschen Ecke lag. Thiel nannte man eines Tages den Hexer, heute ist er 44, Anwalt, mitunter auch Torwarttrainer der DHB-Auswahl. "Eine Mischung aus Mathematik und Poesie" nennt Thiel die Kunst des Haltens, und von seinen beiden Nachfolgern redet er voller Respekt. "Manchmal denke ich", sagt er, "so gut wie die Jungs heute warste nie."
Vor dem Abendessen, in der Hotelbar, reden sie über sich. Oliver Kahn spricht mit Jens Lehmann selten ein Wort. Aber der Handball ist eigen und das deutsche Team sowieso.
"Allein könnt ich so ein Turnier nie durchstehen", sagt Fritz. "Was kam von der EM rüber?", fragt Ramota. "Dass wir uns fabulös ergänzt haben. Das ist das Entscheidende." Und Fritz sagt: "Manchmal rufe ich: Eros, schimpf nicht, das bringt nichts."
"Und ich bremse ihn manchmal", sagt Ramota, "damit er nicht wieder einen Blutsturz kriegt." Beide lachen. Sie kennen sich so gut, sagt Ramota, dass er brüllen kann: "Fritze, wenn's nicht geht, dann komm! Gib mir die Chance!" Den Trainer müssen sie nicht um Erlaubnis bitten. Es ist eine Frage des Mumms, sagen sie. Im EM-Finale gegen Slowenien wechselte sich Fritz selbst aus. "Das war ganz groß", sagt Ramota. "Ich fühle mich wohl, wenn jeder am Erfolg beteiligt ist", sagt Fritz.
Nachher, bei der Siegerehrung, postierte sich Ramota in der Mitte des Podestes, er schrie am lautesten und ließ aus der Pulle Sekt eine Fontäne sprühen. Fritz hatte nicht mal mehr Kraft mehr zum Strahlen.
Wer begreifen will, wie diese Mannschaft es schaffte, den ersten Titel seit 24 Jahren für Deutschland zu holen, nach zwei verlorenen Endspielen in Folge, und warum sie zu Recht auf olympisches Gold zielt, der betrachte nur das Bild dieses Augenblicks. Den zweiten Mann und seine reine Freude.