Als Gabriel Clemens am Sonntagband gegen 21.50 Uhr an die Wurflinie ("Oche") tritt, um seinen ersten Matchdart zu werfen, hält es im Alexandra Palace in London längst keinen der Zuschauer mehr auf den Stühlen. Eine Sensation liegt in der Luft. Mit 4:1 Sätzen führt der Saarländer völlig überraschend gegen Gerwyn Price, Weltmeister von 2021 und zu diesem Zeitpunkt noch die Nummer eins der Welt. Und es sind nur noch acht Punkte – optimalerweise über das Doppel-4-Feld auf null zu spielen –, die den 39-Jährigen vom größten Erfolg seiner Karriere trennen.
Der Rest ist schnell erzählt: Gleich mit dem ersten Pfeil checkt Clemens zum 5:1-Sieg aus und schafft damit, was bisher keinem Deutschen gelang: den Einzug ins Halbfinale einer Darts-Weltmeisterschaft. Die Menge im Ally Pally tobt – und Clemens wirkt zum ersten Mal an diesem Abend für einen kurzen Moment wirklich mit der Situation überfordert.
Überforderung kann man nicht nur im Moment des Sieges verspüren – auch im Spiel selbst kann sie aufkommen, manchmal gepaart mit Panik. Vor allem, wenn einen der Gegner scheinbar mühelos an die Wand spielt. Genau das erlebte Clemens im ersten Satz gegen den Darts-"Badboy" Price. 3:0 watschte ihn das extrovertierte Muskelpaket in weniger als fünf Minuten ab. So manchen Spieler hätte das vielleicht schon gebrochen, Clemens aber besann sich ab Satz zwei auf eine Stärke, wie sie in der Darts-Welt kaum ein anderer Spieler so ausgeprägt besitzt: die Fähigkeit, sich während eines Matchs zu 100 Prozent auf das eigene Spiel zu konzentrieren und alles andere auszublenden.
"Darts ist wie permanentes Elfmeterschießen", beschrieb Clemens den mentalen Stress auf der Bühne einmal in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung". Während der ein bis zwei Minuten dauernden Legs gehe es immer hin und her, die Situation ändere sich ständig. "Ich muss andauernd schnelle Entscheidungen treffen."
Vollzeit-Profi statt Industriemechaniker
Damit das möglichst erfolgreich gelingt, arbeitet Clemens, der erst im Alter von 18 Jahren über Freunde zum Darts kam, dann aber schnell sein Talent aufblitzen ließ, inzwischen wie viele andere Top-Spieler mit einem Mentalcoach zusammen. Hinzukommen vier bis fünf tägliche Trainingsstunden am Dartboard sowie Athletikeinheiten im Fitnessstudio, die die Wurfbewegung stabilisieren sollen.
Ein Pensum, das längst nur noch als Vollzeit-Profi realisierbar ist. Clemens entschied sich 2019, seine Arbeit als Industriemechaniker ruhen zu lassen und sich voll und ganz auf das Pfeilewerfen zu konzentrieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte er zwar bereits Erfolge in der Darts-Bundesliga und bei Pro-Tour-Turnieren der PDC (Professional Darts Corporation) vorzuweisen, der wirkliche Durchbruch aber gelang erst mit dem Ende der Doppelbelastung aus Beruf und Sport. Eine Rückkehr in seinen Job schloss Clemens damals nicht aus. "Natürlich, wenn ich nicht mehr erfolgreich bin und meinen Lebensunterhalt nicht mehr verdienen kann, würde ich zurück an die Werkbank gehen, das ist ganz klar", sagte er der Süddeutschen Zeitung".
Wo sie das Halbfinale mit Gabriel Clemens in Livestream und TV sehen

Doch der Erfolg kam und blieb. Seither schaffte es Clemens unter anderem zweimal ins Achtelfinale der UK Open (2020, 2021), er war beim Grand Slam of Darts dabei und erreichte 2020 gemeinsam mit Landsmann Max Hopp das Halbfinale beim World Cup of Darts. Auch bei der Darts-WM in London ist der in Saarlouis geborene Clemens seit 2019 ständiger Gast. Das beste Ergebnis gelang ihm dort bis zum gestrigen Sonntagabend im Jahr 2020, als er in Runde drei den damals amtierenden Weltmeister Peter Wright bezwang und ins Achtelfinal einzog, wo dann jedoch Endstation war.
In der Darts-Weltspitze angekommen
Dass der große Durchbruch damals noch nicht glücken wollte, störte den auch abseits der Bühne extrem zurückhaltenden Clemens nicht. Den Weg zur Weltspitze gehe er "Schritt für Schritt", sagte der 39-Jährige dem "Spiegel". Wenn es irgendwann so ist, ist es gut. Wenn nicht, dann muss ich halt noch mehr arbeiten", führte Clemens aus, der heute auch einen eigenen Darts-Shop in Merzig führt und als Fan dem Fußball-Drittligisten 1. FC Saarbrücken die Daumen drückt.
Hartes Training, Talent, Erfahrung und seine mentale Stärke haben Clemens seither zum aktuell besten und – womöglich noch bedeutender – konstantesten deutschen Spieler gemacht. Eine Entwicklung, die ihm Experten schon länger zutrauten. Doch waren es oft die Nerven, die Clemens – gerade bei Turnieren mit TV-Begleitung – in den wichtigen Momenten versagten. Zudem machte ihn seine ruhige, schüchterne Art lange Zeit nicht unbedingt zum Liebling des Publikums, das nun mal auch der Show wegen zu Turnieren kommt.
Am gestrigen Sonntagabend war davon nichts zu spüren. Von Beginn an unterstützten die Zuschauer den Deutschen (Spitzname "Gaga"), der ab und wann sogar mit dem Publikum agierte und für den Matchausgang natürlich wesentlich entscheidender: sein absolutes A-Game im Ally Pally aufbot. Mit einem Average (durchschnittliche Punktzahl mit drei Pfeilen) von 99,94 Punkten stellte er eine neue deutsche Bestmarke bei der WM auf. Dank seines guten Scorings konnte er sogar mehrere Fehlwürfe auf das Doppelfeld verkraften, ohne dass ihm Price gefährlich werden konnte. Von Verunsicherung war selbst in solchen Momenten keine Spur.
Ehefrau Lisa immer an der Seite
Clemens blieb sogar dann fokussiert, als Price, für seine Psychotricks bekannt, in Satz fünf plötzlich mit riesigen Baustellen-Kopfhörern auf die Bühne zurückkehrte – vermutlich, um die Geräuschkulisse auszublenden. Vielleicht aber auch, um Clemens aus dem Konzept zu bringen. Beim 39-Jährigen bewirkte die Aktion nur eines: Er wollte Satz fünf und das Match nur umso mehr gewinnen. Das Ende ist bekannt.
Während Price, der zuvor noch nie gegen Clemens verloren hatte und seinen Status als Weltranglistenerster nun vorerst los ist, seinen Kontrahenten artig beglückwünschte und dann schnell von der Bühne verschwand, wirkte der Deutsche ob des unerwarteten Erfolgs zunächst etwas überfordert. Bei Ehefrau Lisa Heuser, die die Partie live im Publikum mitverfolgt hatte, floss gar die ein oder andere Freudenträne. Die beiden lernten sich einst bei einem Turnier an der Scheibe kennen. Heute plant Heuser Termine und Reisen für den Profi und ist oft selbst mit in den großen Hallen in Großbritannien und Deutschland. "Sie ist schon meine große Unterstützung, so etwas wie mein Anker", sagte Clemens.
Nimmt Clemens Revanche für Darts-Kumpel Schindler?
Auf einen Unterstützer musste Clemens beim bisher größten Erfolg seiner Karriere, der ihm schon jetzt ein Preisgeld von mehr als 110.000 Euro einbringt und in der Weltrangliste nach oben klettern lässt, verzichten: Freund und Darts-Kollege Martin Schindler, mit dem der 39-Jährige regelmäßig zu den Turnieren fährt. Auch bei der WM war immer wieder zu sehen, wie Clemens bei Schindlers Spielen mit in der Box saß – und umgekehrt. Für Schindler aber war bei der Weltmeisterschaft aber schon vor Weihnachten Schluss. In Runde drei unterlag Schindler dem Engländer Michael Smith mit 3:4 – genau jenem Gegner, auf den Clemens am heutigen Montagabend im Halbfinale trifft (ab 20.30 Uhr/Sport1 und DAZN).
Auch dann wird der Deutsche wieder der große Außenseiter sein. Anders als Clemens schaffte es der "Bully Boy" in seinem Viertelfinale jedoch nicht, sein bestes Spiel abzurufen. Steigert sich sich Smith nicht und bleibt Clemens wieder über die ganze Partie nur bei sich, ist die nächste Sensation bei der Darts-WM nicht ausgeschlossen. Zumal sich der "German Giant" nicht nur für die Pleite seines Freundes revanchieren kann. Auch lockt ein Preisgeld von 200.000 Pfund für den Einzug unter die besten Zwei.