Am 21. Januar 2016 ist die Welt von Radprofi John Degenkolb noch in Ordnung. Der Kapitän des deutschen Giant-Alpecin-Teams weilt in Roubaix, jenem Ort seines bislang größten Erfolgs. Gut zehn Monate zuvor hatte er hier den traditionsreichen Klassiker Paris-Roubaix, von Fans und Fahrern ehrfürchtig als "Hölle des Nordens" bezeichnet, aus einer siebenköpfigen Spitzengruppe heraus gewonnen.
Der Anlass jedenfalls, der im Norden Frankreichs gelegenen Stadt einen Besuch abzustatten, könnte kein schönerer sein: Der 27-Jährige darf sich, wie alle anderen Sieger zuvor, mit seinem Namensschild in den Duschen verewigen. Seinen Namen neben denen der großen Radsporthelden lesen zu können, sei eine "riesengroße Ehre", schreibt Degenkolb noch am gleichen Abend stolz auf seiner Homepage. "Das gibt mir Motivation für den nächsten Ritt durch die Hölle des Nordens."
Schnittwunden, Unterarmbruch und ein fast abgerissener Finger
Nur zwei Tage sieht plötzlich alles ganz anders aus. Es ist der 23. Januar, als Degenkolb und sechs weitere Fahrer seines Teams im spanischen Calpe einen wahren Albtraum erleben. Auf der Rückfahrt zum Hotel kommt den Profis hinter einer Kurve ein Auto auf der falschen Straßenseite frontal entgegen - und rast nur wenig später nahezu ungebremst in sie hinein. Zeit zu reagieren, haben die Fahrer keine. Sechs von ihnen werden bei dem Horror-Crash schwer verletzt, auch Degenkolb.
Gleich mehrere tiefe Schnittwunden und einen Unterarmbruch trägt der gebürtige Thüringer davon. Der Zeigefinger seiner linken Hand hängt nur noch "am letzten Zipfel". Schnell ist klar, dass er seine ursprüngliche Saisonplanung über den Haufen werfen muss. Und für ihn noch schlimmer: Dass an eine Titelverteidigung bei Paris-Roubaix nicht zu denken ist.
Im Gespräch mit dem stern erzählt Degenkolb von der Zeit nach dem Unfall, seinem Kampf ums Comeback und warum das Rennen im Norden Frankreichs so besonders ist.
Herr Degenkolb, seit Ihrem schweren Trainingsunfall in Spanien sind etwas mehr als zwei Monate vergangen. Wie geht es Ihnen heute?
Eigentlich ganz gut. Ich bin im Aufbau und fühle mich so langsam wieder wie ein Leistungssportler. Natürlich habe ich noch lange nicht das Niveau, das ich vor dem Unfall hatte. Um da wieder hinzukommen, muss ich momentan wirklich hart arbeiten.
Sie haben damals mehrere schwere Verletzungen erlitten. Ihr lädierter Finger bereitete die größten Sorgen. Um ihn vor einer Amputation zu bewahren, musste sogar ein Stück Knochen aus Ihrer Hüfte transplantiert werden. Können Sie inzwischen Entwarnung geben?
Der Finger ist nach wie vor geschient, was daran liegt, dass der Knochen aushärten muss. Erst wenn er wieder fest ist, sind Übungen möglich, die die Beweglichkeit verbessern. All das aber braucht einfach seine Zeit und es steht in den Sternen, wie es letztlich ausgehen wird. Selbst die Ärzte können nicht voraussagen, wie viel Beweglichkeit wieder reinkommen wird.
Inwiefern behindert Sie die Verletzung auf dem Rad, beispielsweise beim Schalten oder Bremsen?
Das beeinträchtigt natürlich schon und wird das ziemlich sicher auch in Zukunft tun. Die Frage ist eher in welchem Ausmaß. Man kann theoretisch auch mit einem steifen, nicht normal beweglichen Finger Rad fahren, weil die anderen so etwas ausgleichen können. Die Finger dafür zu trainieren, also stärker zu machen, geht aber ebenfalls nicht von heute auf morgen. Aktuell sind sie durch die ganze Rückstellung ja sogar schwächer.
Würden Sie angesichts der Schwere des Unfalls rückblickend sagen, dass Sie "Glück im Unglück" hatten?
Auf jeden Fall. Das Ganze hätte wesentlich schlimmer ausgehen und dazu führen können, dass einer von uns jetzt im Rollstuhl sitzt oder wir vielleicht sogar zu einer Beerdigung gemusst hätten. Da wir alle wieder Rad fahren, also unserem Beruf nachkommen können, sind wir sicher mit einem blauen Auge davongekommen.
Wie geht man mit so einer Situation um? Spricht man darüber oder verdrängt man sie?
Ich habe von Anfang viel darüber geredet. Mit meiner Familie, mit meinen Freunden. Mir hat das sehr gutgetan und geholfen. Ich bin auch der Meinung, dass sich so etwas nur verarbeiten lässt, wenn man sich immer wieder damit konfrontiert. Vielleicht ist das Thema auch deshalb für mich inzwischen ein abgeschlossenes Kapitel.
Verspüren Sie Angst oder ein mulmiges Gefühl, wenn Sie auf der Straße trainieren?
Nein. Es ist nun mal sehr außergewöhnlich, dass einem ein Fahrzeug plötzlich auf der falschen Seite der Straße frontal entgegenkommt und man keinerlei Chance hat, zu reagieren. Man kann - so komisch es klingt - vielleicht sogar von Glück sprechen, dass der Unfall derart schwer war. Die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas noch mal passiert, ist klein. Im Falle eines "normalen" Unfalls sähe das möglicherweise ganz anders aus, weil man weiß, dass es wieder passieren kann. Mental bin ich daher überhaupt nicht beeinträchtigt, wenn ich draußen bin und mich im Verkehr bewege.
Ihrer ursprünglichen Saisonplanung machte der Unfall dennoch einen Strich durch die Rechnung. Auch bei den gerade stattfindenden Frühjahrsklassikern, ihrem Spezialgebiet, sind Sie zum Zuschauen verdammt. Wie schwer fällt Ihnen das?
Einfach ist es natürlich nicht. Die schwierigste Phase aber liegt schon hinter mir. Wir wussten ja relativ schnell, dass meine Genesung eine langwierige Geschichte wird. Zu akzeptieren, dass das so ist, fiel mir mental wesentlich schwerer, als jetzt bei den Rennen nur zuschauen zu können - zumal ich diese Rennen zu sehr liebe, als sie nicht zu verfolgen. So gucke ich halt nur zu und frage mich hin und wieder, wie ich wohl in der jeweiligen Rennsituation reagieren würde. Aber klar, es ist doof, nicht dabei zu sein.
Ihre Konkurrenten müssen sich am Sonntag beim Klassiker Paris-Roubaix, auch als "Hölle des Nordens" berüchtigt, quälen. Mit ihrem Sieg im vergangenen Jahr erfüllten Sie sich nach eigener Aussage einen "Kindheitstraum". Was macht das Rennen so besonders?
Paris-Roubaix ist schon wegen seiner Historie etwas Besonderes. Da steckt so viel Tradition hinter. Allein, dass das Rennen erstmals 1896 ausgetragen wurde, ist schon krass. Dass die Jungs damals mehr oder weniger die gleiche Strecke gefahren sind wie wir heute - oder gar noch mehr Kilometer und Kopfsteinpflaster vor sich hatten -, ist schon beeindruckend. Zumal sie die Strecke ja auf Rädern zurücklegten, die meilenweit vom heutigen Standard entfernt waren. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal ist sicher das Ziel auf der Radrennbahn. Paris-Roubaix ist verdammt tough und absolut nichts für Weicheier.
Einige fast schon sichere Siege bei Paris-Roubaix platzen jäh durch späte Defekte. Macht das auch einen Reiz aus, nicht planen zu können, problemfrei durchzukommen?
Die Gefahr, sich einen Platten zu fahren oder andere mechanische Probleme zu bekommen, ist auch bei den anderen Klassikern groß. Dies alles hängt aber auch viel mit Erfahrung zusammen. Zum einen beim Sportler, der mit seiner Fahrweise und -linie beeinflussen kann, dass das Risiko gering bleibt. Andererseits vom Material, dem richtigen Reifendruck. Ich will nicht sagen, dass man jedes Schlagloch auswendig kennen muss, aber wenn man vorausschauend fährt, kann man kritische Stelle ganz gut umgehen. Dennoch: Nur wenn am Renntag alles 100-prozentig zusammen passt und auch noch etwas Glück dazukommt, kann man ein erfolgreiches Rennen fahren. Dieses Gesamtpaket finde ich extrem faszinierend.
Wie sehr schmerzt es, den Titel wegen einer Verletzung nicht verteidigen zu können?
Als Titelverteidiger mit der Startnummer 1 in ein Rennen wie Paris-Roubaix zu gehen, ist der große Traum aller Fahrer. Von daher habe ich tatsächlich schwer gehadert, als feststand, dass ich nicht fahren kann. Auch, weil ich eine Woche vor dem Unfall, wie alle Sieger des Rennens, mein Namensschild in der Dusche anbringen durfte. Dann passiert so etwas und plötzlich geht alles flöten. Mit der Nummer 1 und als einer der Topfavoriten an den Start zu gehen, wäre auch für mich eine positive Ausnahmesituation und eine Erfahrung fürs Leben gewesen.
Weltmeister Peter Sagan hat am vergangenen Wochenende die Jubiläumsausgabe der Flandernrundfahrt eindrucksvoll gewonnen. Ist er für Sie auch der Favorit für Paris-Roubaix?
Sein Flandernsieg hat mich schon ein bisschen überrascht. Er hat seinen ersten Sieg bei einem der großen Monumente - und das auch noch im Weltmeistertrikot - wirklich in beeindruckender Manier geschafft, was mich für ihn sehr freut. Er ist jemand, der dem Radsport mit seiner Renngestaltung sehr gut tut. Gemeinsam mit Fabian Cancellara zählt er für mich auch am Sonntag zu den ganz heißen Sieganwärtern.
Nach dem Unfall sagten Sie, hofften Sie, möglichst bei Ihrem Heimrennen in Frankfurt im Mai wieder starten zu können. Wie stehen die Chancen?
Leider kann ich noch immer keine ernsthafte Prognose abgeben. Im Moment versuche ich durch lange Trainingsfahrten meine Ausdauer wieder aufzubauen. In der Reha liegt der Schwerpunkt vor allem darauf, mich neurologisch wieder auf Vordermann zu bringen, also die Ansteuerung aller Muskelgruppen wieder hinzubekommen. Wenn das funktioniert, ist es wohl realistisch, in Frankfurt dabei zu sein. Dafür aber müssen die Reha-Maßnahmen richtig zünden. Andernfalls macht es keinen Sinn. Bis dahin sind es zum Glück ja noch drei Wochen. Sollte es nicht klappen, wäre das auch kein Weltuntergang. Ob ich jetzt noch ein Rennen mehr oder weniger mache, macht dann auch keinen Unterschied mehr.
Welche anderen Ziele haben sie für 2016 oder spielt das für Sie angesichts der momentanen Unsicherheit eine eher untergeordnete Rolle?
Das erste große Ziel ist, wieder auf ein Level zu kommen, auf dem ich konkurrenzfähig und beschwerdefrei Rennen bestreiten kann. Darauf liegt aktuell klar das Hauptaugenmerk. Dennoch ist natürlich auch die Tour de France weiterhin ein Thema und großer Motivator, jeden Tag an meine Grenzen zu gehen, gerade jetzt während der Reha. Wenn ich allein auf den heutigen Tag zurückblicke, dann habe ich - eine kurze Mittagspause ausgeklammert - fast zwölf Stunden ununterbrochen Sport gemacht. Das ist schon hardcore.