Es ist, als hätten es die Koreaner gewusst. Sie wollten von Anfang an keine rechte Begeisterung für Usain Bolt zeigen. Und dann das: Finale über 100 Meter bei der Leichtathletik-WM in Daegu. Acht Männer hocken in den Startblöcken. Im Stadion knistert es. Alle gucken auf die Bahn fünf, auf den Titelverteidiger, Olympiasieger und Weltrekordhalter aus Jamaika. Und plötzlich rennt der los. Deutlich bevor der Startschuss gefallen ist. Danach: Pures Entsetzen. Bei den Zuschauern. Und bei Bolt.
Der 25-Jährige weiß nicht, wohin mit all seinem Adrenalin. Er zieht sich das Trikot über den Kopf und entblößt seinen durchtrainierten Oberkörper. Er flucht. Er hämmert mit der Faust gegen eine Wand. Er will gar nicht sehen, wie eine rote Karte auf das Hütchen hinter seinem Startblock gesteckt wird. Denn seit dem 1. Januar 2010 gilt: Wer zu früh losrennt, ist raus. Vorher war ein Fehlstart erlaubt und derjenige, der den zweiten auslöste wurde disqualifiziert. Ganz früher konnte sich sogar jeder Starter einen Fehlstart leisten.
"Ihn wollen die Leute laufen sehen"
Diejenigen, die übrig geblieben waren, übernahmen die Show. Es siegte Bolts Teamkollege und Trainingspartner Yohan Blake in 9,92 Sekunden vor Walter Dix aus den USA (10,08) und Kim Collins (St. Kitts und Nevis, 10,09). Immerhin: Usain Bolt kann am Freitag noch seinen Titel über 200 Meter verteidigen und am Sonntag den mit der jamaikanischen Sprint-Staffel.
Yohan Blake und Walter Dix gaben sich nach dem Rennen "schockiert" ob der Disqualifikation Bolts, hatten an der Regel aber nichts weiter auszusetzen. Die habe der Weltverband IAAF eben so vorgegeben, meinte Blake. Und Dix mag die "mentale Herausforderung", die damit verbunden sei. Kim Collins hingegen, Weltmeister von 2003 und 35 Jahre alt, erklärte, dass er ja schon viele Regeln zum Fehlstart erlebt habe. Diese jedoch sollte seiner Ansicht nach überdacht werden. "Usain Bolt ist der Weltmeister und der Olympiasieger, ihn wollen die Leute laufen sehen, nicht mich oder Blake."
Außer vielleicht das koreanische Publikum. Es feuerte am Sonntagvormittag Oscar Pistorius, den südafrikanischen 400-Meter-Läufer mit Unterschenkelprothesen bei dessen Vorlauf mit "Oscar, Oscar"-Sprechchören an. Als Bolt jedoch am Abend zuvor zum ersten Mal bei dieser WM aus den Startblöcken schoss, hatte sich ein Großteil der Zuschauer schon verabschiedet. Sie waren offenbar nur gekommen, um die bunte Eröffnungsfeier zu sehen.
Der Jamaikaner tat trotzdem, was er am liebsten tut: er ulkte munter herum. Diesmal war es sein neues Ziegenbärtchen, das er mit großen Gesten für die Kameras in Form zupfte. Dann legte er einen Start hin, der diejenigen Konkurrenten, die glaubten, der Bolt des Jahres 2011 sei schwach, das Fürchten lehrte. Nach etwa 50 Metern leitete er schon wieder die Bolt’sche Austrudelphase ein, es war ja nur der Vorlauf. Usain Bolt joggte ins Ziel – und die Uhr blieb bei 10,10 Sekunden stehen. Kein anderer rannte in der ersten Runde so schnell. Im Halbfinale gab er immerhin bis etwa zur 80-Meter-Marke Gas: 10,05 Sekunden.
Kaum noch Gegner für Bolt
Vor dem Finale dann wieder ein paar Albernheiten. Unter anderem zeigte Bolt auf die Männer neben sich und schüttelte vielsagend den Kopf. Nein, nein, die werden nicht gewinnen, wollte er wohl sagen. Als er es dann war, der den Triumph verpasste, mag manch einer das als gerechte Strafe für seine Überheblichkeit aufgefasst haben.
Zumal er es einfach gehabt hätte, trotz seiner Verletzungspause am Ende der letzten Saison. Denn kurz vor der WM fiel auch noch der Weltjahresbeste Asafa Powell verletzt aus. Damit war nur noch einer der fünf Männer übrig, die in diesem Jahr über 100 Meter schon schneller waren als Bolt. Nämlich Richard Thompson aus Trinidad und Tobago, der am Ende aber schon im Halbfinale scheiterte. Der Amerikaner Tyson Gay hatte seine Saison verletzt beendet, Steve Mullings (Jamaika, 9,80) und Mike Rodgers (USA, 9,85) sind wegen des Verdachts auf Doping gesperrt.
Der Plan des Usain B.
"Ich bin nicht in der Tipp-Top-Form wie in Berlin", sagte der 25-Jährige. Mit einer Verbesserung seiner Weltrekorde von 9,58 Sekunden über 100 Meter und 19,19 Sekunden über 200 Meter rechne er daher nicht. "Aber ich glaube definitiv, dass ich schnell laufen werde." Es war ja auch niemand mehr übrig, der ihn hätte schlagen können. Außer ihm selbst.
Und dabei war es ihm doch um so viel mehr als den Titel gegangen. Er hatte wenige Tage vor der WM von seinem großen Plan erzählt, eine Legende werden zu wollen. Er findet nämlich nicht, dass seine Erfolge dafür schon reichen. "Viele Athleten haben Titel gewonnen. Und viele haben Rekorde gebrochen", sagte er. „"Aber es ist schwierig, wieder zu kommen und noch einmal zu gewinnen." Ganz so schwierig, wie es dann tatsächlich war, hat er sich aber wohl nicht vorgestellt.