Günstiger ÖPNV Ansturm, Rücklauf und steigende Preise: So pessimistisch schätzen Verbände das Neun-Euro-Ticket ein

Wird das Neun-Euro-Ticket zum Flop?
Ein 9-Euro-Ticket ist vor einem Fahrkartenautomaten: Seit Ende Mai ist das günstige Ticket zu haben
© Oliver Berg / DPA
Das Neun-Euro-Ticket sorgt für Unmut. Während manch einer schon überfüllte Züge fürchtet, glauben andere, dass der große Run langfristig ausbleibt. Vor allem Verkehrsverbände sehen das Angebot kritisch. Wird die Aktion zum Flop?

Der Vorverkauf für das Neun-Euro-Ticket läuft, Ende dieser Woche soll es dann deutschlandweit im öffentlichen Nahverkehr gelten. Die Anbieter rechnen mit einem enormen Ansturm – zumindest legt das der Aufwand nahe, den die Deutsche Bahn betreibt. "Wir bereiten uns vor und setzen buchstäblich alles in Bewegung, was wir haben – Züge, Busse, Servicekräfte", sagt der Vorstandsvorsitzender DB Regio, Jürgen Sandvoß. Der Konzern rechnet mit steigenden Zahlen bei den Fahrgästen.

Deshalb werden ab dem 1. Juni 50 zusätzliche Züge der DB Region durch Deutschland tschuckeln. Das macht laut Konzern 250 zusätzliche Fahrten. Täglich stünden demnach 60.000 zusätzliche Sitzplätze in Regional- und S-Bahn-Zügen zur Verfügung. "Da an den bevorstehenden Feiertagswochenenden und während der Sommermonate insbesondere mehr Freizeit- und Ausflugsfahrten unternommen werden, verstärkt die DB vor allem entlang touristischer Strecken das Personal in Zügen und Bahnhöfen", verspricht die Deutsche Bahn in ihrer Pressemitteilung.

Aber ob sich das alles lohnt?

Vielleicht kurzfristig. Langfristig könnte das neun-Euro-Ticket allerdings zum Flop werden – glaubt der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Vertreter bezweifeln, dass viele Menschen dauerhaft auf Bus und Bahn umsteigen werden. "Ich sehe das Ticket durchaus positiv. Aber große Erwartungen habe ich nicht, dass es zum massiven Umstieg führen wird", sagt VDV-Präsident Ingo Wortmann dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Alle bisherigen Erfahrungen mit besonders günstigem ÖPNV zeigen: Zuerst muss das Angebot stimmen, der Preis ist zweitrangig."

Kurzfristiges Chaos, langfristige Preissteigerungen

Langfristig könnten vor allem die Preise zum Problem werden, denn die könnten, laut Wortmann, nach dem Aktionszeitraum deutlich steigen. Schuld daran sei der Bund, der Ausgleichszahlungen für Spritpreise verweigere. "Wir werden mittelfristig die fehlenden Gelder auf die Fahrpreise umschlagen müssen oder das Angebot einschränken", sagt er den RND-Zeitungen. "Die Ticketpreise werden also weiter steigen – nicht direkt zum 1. September, aber in den nächsten Preisrunden." Um den Verkehr klimafreundlich auszurichten, bräuchten die Verkehrsunternehmen deutlich mehr Geld von Bund und Ländern. "Leider kommen wir dann in die Situation, dass Menschen, die ohnehin schon belastet sind, für ihre Fahrten mehr bezahlen müssen."

Aber auch kurzfristig ist die Aktion laut VDV-Präsident problematisch. Er wolle zwar "nicht von Chaos sprechen", rechne aber mit sehr vielen vollen Zügen und Bussen. Insbesondere Strecken zu Freizeitzielen wie Sylt, die Ostseeküste oder das bayerische Oberland könnten betroffen sein. "Bei ganz vollen Zügen droht sicherlich eine angespannte Stimmung unter den Reisenden und Fahrgästen." Es seien "im absoluten Extremfall" auch Angriffe auf Mitarbeiter möglich.

Davor warnt auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Besonders zum Pfingstwochenende seien stark überfüllte Züge und eventuelle Räumungen von Zügen, Bahnsteigen oder ganzen Bahnhöfen denkbar. "Das Pfingstwochenende wird ein echter Stresstest für die Bahnen", sagt der stellvertretende Vorsitzende der EVG, Martin Burkert, in der "Rheinischen Post". Vor allem der Ausflugsverkehr könnte das System Schiene an eine Belastungsgrenze bringen.

Notfallpläne für das Neun-Euro-Ticket

Deshalb gebe es bereits erste Notfallpläne – "wenn sich zu viele Menschen auf einem Bahnsteig befinden, wird dieser von der Bundespolizei geräumt, damit Züge gefahrlos einfahren können." Drohen Bahnhöfe überfüllt zu werden, würden diese geschlossen. Und überfüllte Züge müssten geräumt werden. Das sei bereits geschehen, so der Gewerkschaftsvertreter. Allein in den vergangenen Tagen seien zweimal ICE-Züge in Nürnberg und Frankfurt wegen zu hohen Gewichts geräumt worden. Das sei auch bei Nahverkehrszügen möglich. "Wenn das gesamte Gewicht inklusive eben viel zu vieler Fahrgäste zu hoch ist, kann der Zug nicht losfahren. Da hat Sicherheit immer Vorfahrt."

Sorgen macht sich Burkert um behinderte Fahrgäste mit Rollstuhl sowie um Radfahrer. "Die Mobilitätshilfen im ländlichen Raum werden eventuell nicht in dem Maße zur Verfügung stehen wie es nötig wäre, um Rollstuhlfahrern zu helfen." Hinzu komme, dass es für Behinderte in vollen Zügen schwerer werde, hineinzukommen und dann auch einen adäquaten Platz zu finden. "Ich kann da nur an alle Mitreisenden appellieren, Rücksicht zu nehmen – untereinander und erst recht auf die Schwächeren."

Bei Fahrradfahrern fürchtet Burkert, dass ganze Gruppen liegen bleiben. "Wir haben ja nur begrenzt Kapazität für Fahrräder beziehungsweise E-Bikes. Man kann nun nicht ganz ausschließen, dass eine Gruppe zu ihrem Ziel mit der Bahn hinkommt, aber auf der Rückfahrt nicht inklusive Fahrrädern und E-Bikes einsteigen darf. Das wäre natürlich sehr bedauerlich", sagte er der "Rheinischen Post".

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) weist indes alle Befürchtungen zurück. "Bisher wurde immer beklagt, dass zu wenige Menschen die Busse und Bahnen nutzen. Ich freue mich, wenn es mehr werden", sagt Wissing im Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Im Übrigen liege "die Auslastung im Vergleich zur Zeit vor Corona erst bei 80 Prozent". Somit sei da "noch etwas Luft".

Mit dem 9-Euro-Monatsticket können Fahrgäste jeweils im Juni, Juli und August mit dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) durch ganz Deutschland fahren. Die Tickets sind Teil des Entlastungspakets der Ampel-Koalition wegen der hohen Energiepreise und sollen auch ein Anreiz für die weitere Nutzung des ÖPNV sein.

Erste Forschungsprojekte laufen bereits

Das Neun-Euro-Ticket ist Teil des Entlastungspakets der Ampel-Koalition. Von Juni bis August können Bürgerinnen und Bürger den öffentlichen Nah- und Regionalverkehr in ganz Deutschland für neun Euro pro Monat nutzen. Ausgeschlossen sind Fernzüge und -busse. Für Fahrräder muss ein zusätzliches Ticket gekauft werden. Entlastet werden so vor allem Millionen Pendlerinnen und Pendlern mit Abos – denn sie sind viel günstiger als normale Monatskarten. Geregelt werden soll das nach Branchenangaben über reduzierten Bankeinzug oder Erstattung der Differenz. Bei Semester- oder Jobtickets soll es ähnlich laufen.

Wie die Aktion bei den Bürgern ankommt, wird von verschiedenen Universitäten in ganz Deutschland untersucht. Die Befragungen laufen bereits. Parallel dazu ist eine breit angelegte Marktforschung vorgesehen. Nach Informationen des Bundesverkehrsministeriums wurde mit den Ländern eine Evaluierung vereinbart. Organisiert wird die Befragung vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen zusammen mit der Deutschen Bahn. Während und nach der Aktionszeit von Juni bis August soll bundesweit die Nutzung verschiedener Kundengruppen erfragt werden – unter anderem zum Reiseverhalten, zu Gründen und Barrieren für die Nutzung, zu Preiswahrnehmung und Zufriedenheit.

Die Ergebnisse sollen auch an eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe gehen, die Vorschläge zu einem "Ausbau- und Modernisierungspakt" für den ÖPNV erarbeitet. Darüber wollen Bundesminister Volker Wissing (FDP) und die Länder im Herbst beraten. Neben der zentralen Evaluierung können die Verkehrsverbünde und Länder auch vor Ort selbst Marktforschungen machen, wie es hieß.

Bisher ist das Neun-Euro-Ticket jedenfalls kein Ladenhüter. Allein die Deutsche Bahn hat nach eigenen Angaben bisher 2,7 Millionen Tickets verkauft.

Quellen: Deutsche Bahn, DPA

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