Das Kaff liegt da wie Müll am Rand der Autobahn des Lebens. Geroldstein im Taunus, ein Stückchen westlich von Wiesbaden, 100 Einwohner. Alte Häuschen stehen im schattigen Tal wie schiefe Zähne. Es riecht, als würde hier noch mit Holz geheizt. Kein Bäcker, keine Tankstelle, kein Tante-Emma-Edeka. Der Gasthof Graf Gerold: dichtgemacht. Das Handy meldet: »Kein Netz!« Die Sonne kommt hier unten im Wispertal an, wenn sich die Leute in Deutschlands Betrieben schon »Mahlzeit« zurufen. So gegen 10.30 Uhr.
Aber vorher, pünktlich um viertel nach zehn, kommt der Herr Fleischer von der Nassauischen Sparkasse. Naspa steht in dicken kobaltblauen Buchstaben auf seinem Daimler 711 D. Gerhard Fleischer, 49, ist ein Ereignis, weshalb nicht wenige Geroldsteiner seiner harren, als er auf dem Steg über die Wisper zum Parkplatz rollt.
Eine kurze Umfrage unter den Wartenden ergibt: Eine »Maus« ist nichts anderes als ein nagender Schädling, »Surfen« bloß ein Wassersport, und der »Computer« ist etwas, das man nicht mehr kennen lernen will. Dann haben die Damen in Leggins und Kittelschürzen und die Herren in Blaumännern, allesamt in Rente, aber keine Zeit mehr für solche Fragen. Sie müssen jetzt sofort Homebanking machen.
Das geht so:
Man öffnet, sobald Herr Fleischer die Handbremse gezogen und das Trittbrett rausgelassen hat, am Naspa-Lkw hinten rechts eine Klapptür und geht dann durch ein kleines Wartekabuff an einer Sitzbank vorbei durch die nächste Klapptür. Da sitzt einem dann schon Herr Fleischer auf einem Bürostuhl einfachster Bauart gegenüber. Links von ihm steht eine Buchungsmaschine, wie sie von den Banken gelegentlich noch in den Achtzigern benutzt wurde, hinter ihm ein kleiner Tresor, vor ihm ein Kasten voller Auszüge, nach Kontonummern sortiert. Daneben ein Kaffeebecher mit einer Mickymaus und der Aufschrift »Mutti«. Davor Panzerglas, so dick wie in jeder herkömmlichen Bankfiliale. Herr Fleischer trägt aschblondes Haar, Vollbart und eine Brille vor großen blauen Augen. Seit 15 Jahren kommt er nun schon nach Geroldstein, zu jedem Gesicht fallen ihm sofort die vollständige Kontonummer und die halbe Lebensgeschichte ein, da sparen sich die Geroldsteiner jegliches Rumgetue.
»Herr Fleischer, ich brauch 19 000 Euro!«, ruft beim Reinkommen Burghard Hale, Ex-Maler, jetzt Frührentner, 54. »Um Gottes willen! Wofür denn?« »Für meine Heizung. 15 000 hab ich auf dem Sparbuch. Für den Rest brauch ich ?nen Kredit.« - »Was ist denn das für ?ne Heizung?« - »Heizkörper zwei Meter mal ein Meter, und ich hab ja acht Zimmer.« - »Du brauchst keinen Kredit. Sag der Firma, sie soll?s billiger machen.« - »Gut. Mach ich. Tschüs.«
Walter Hofmann, 69, will nur seine Kontoauszüge abholen, Emma Ernst, 88, ihre Rente. Alle sind sie in Geroldstein geboren, und das Leben bot bis heute keinen Grund, den Ort auf Dauer zu verlassen. Weder um Geld zu machen, noch um es auszugeben. »Die Leute hier sind als eigen verschrien«, sagt Herr Fleischer, und meint: Sie kapseln sich ab. Einzugsermächtigungsformulare kommen in den Ofen, EC-Karten werden nicht beantragt, und bei der großen Schlafmünzen-Aktion schickten Omas ihre Enkel mit 20 000 Mark über die Straße und steckten »die 10 000 Euro, die zurückkamen, wieder unter die Matratze«.
Genau 350 Kilometer
fährt Herr Fleischer pro Woche durch den Untertaunus, 15 Millionen Euro Vermögen verwaltet er, verteilt auf »650 bis 680 Kunden«. Vorwiegend hat er mit Frauen zu tun, denn die regeln hier traditionell die Geschäfte, während die Männer arbeiten oder schon die Radieschen von unten anschauen. Regelmäßig stecken sie ihm unter dem Panzerglas die Rechnungen von Otto, Quelle und der Telekom durch, und er füllt die Überweisungen aus. Sie legen Wert darauf, dass er einen Eingangsstempel auf die Formulare haut, obwohl der schon lange nichts mehr beweist und Herr Fleischer die Anweisung von oben hat, die zwei Sekunden, die diese Handbewegung kostet, wirtschaftlicher einzusetzen.
Von vielen Einsamen kennt er die komplette Krankheitsgeschichte, und trotzdem trifft es ihn, wenn, so wie neulich, eine Frau wie nebenbei erzählt, sie habe Brustkrebs. Nicht selten muss er Tratsch von Dorf A nach Dorf B tragen: Ob der X jetzt endlich eine gefunden hat, und wann der Y die Z heiratet. Eine Meinung wollen sie manchmal sogar von ihm hören, aber seine bekommen sie in den seltensten Fällen. »Gibt zu viel Ärger. Diskretion, Geduld, Freundlichkeit: Das sind die Tugenden, ohne die man als Leiter einer fahrbaren Zweigstelle nicht auskommt«, meint er.
Herr Fleischer kennt
auch eine alte Dame, die es schafft, mit 200 Euro Rente auszukommen. »Sie verbraucht acht Kubikmeter Wasser im Jahr, das Gemüse zieht sie im Garten. Kein Telefon. Überzogen hat sie ihr Konto noch nie. Wenn man ihr helfen will, ist sie beleidigt.« Und er kennt eine, die bestellt Duftwässerchen und Gesundheitspillen en masse, und dann muss er wieder sagen: »Bestell die Kataloge ab, nagel den Briefkasten zu, du lebst über deine Verhältnisse.« Er weiß, wer von Sozialhilfe lebt und wer sich vor den Unterhaltszahlungen drückt. Einmal hat er auf einen Schlag eine Viertelmillion angelegt. Und neulich hat er einen Kunden aus seiner Kabine rausgeschmissen, der dort einen Tobsuchtsanfall bekam, bei dem er dem Sparkassenmann Betrug unterstellte, weil seine Zahlen auf dem Kontoauszug nach der Euro-Umstellung nur noch halb so groß waren. Herr Fleischer bringt die Dollar für die Neuseelandreise, er zahlt das Erbe aus, finanziert Aus-, Um- und Anbauten, räumt nach Pleiten auf. Den aktuellen Wert einer Aktie entnimmt er der Tageszeitung, oder er ruft, vorausgesetzt, sein Mobiltelefon tut es mal, schnell einen Kollegen in der Bad Schwalbacher Naspa-Filiale an. Wird's kompliziert und langwierig, kommt er sogar am Samstag zur Kundschaft nach Hause. Bei Herrn Fleischer ist alles möglich.
Auch, dass er seinen Job verliert. Zwar versichert die Pressesprecherin Daniela Gramlich, dass die Naspa ihre elf Busse noch die nächsten 20 Jahre halten will. Schließlich habe die viertgrößte Sparkasse in der Bundesrepublik ein Gebiet zu betreuen, das doppelt so groß ist wie das Saarland. Andererseits: 1976 unterhielt die Naspa noch 26 fahrbare Zweigstellen. Seitdem mussten sich viele ihrer Kunden an Geldautomaten und Kontoauszugdrucker oder an weite Wege gewöhnen. Als sie neulich einen Kollegen Fleischers bei der Arbeit begleitete, packte ein erregter Landhesse die PR-Dame am Blusenkragen und rief: »Wenn ihr den Bus auch noch abschafft - da drüben ist die Volksbank!« Tatsächlich sind die Volks- und Raiffeisenbanken und die Sparkassen die Einzigen im Land, die noch zu den Menschen ins Dorf kommen. 14 Busse schicken beispielsweise die bayerischen Sparkassen noch über die Landstraßen, aber bevor man sie aufsuche, solle man vorsichtshalber noch mal anrufen, sagt der Pressesprecher des bayerischen Landesverbandes. Neulich habe er einen Journalisten nach Landshut geschickt, und der habe dann vor einer ausgemusterten Rostlaube gestanden. In Schleswig-Holstein sind die Bank-Busse nur noch eine sentimentale Erinnerung an die Siebziger. Sie passten nicht so richtig zum modernen Image, erklärt der Pressesprecher des dortigen Sparkassen-Landesverbandes.
Das ist aber nicht
der Hauptgrund für Herrn Fleischers Zukunftssorgen. Zwar versichert die Naspa-Sprecherin, die Busse hätten bisher jede Wirtschaftlichkeitsrechnung bestanden. Was sie nicht sagt: dass dabei Äpfel gegen Birnen gewogen werden. Rund 50.000 Euro kostet eine SB-Station mit Geldautomat und Auszugdrucker, verrät Alfred Ledig, Mitglied der Geschäftsleitung der Vereinigten Raiffeisenbanken im fränkischen Gräfenberg. Fünf Dörfer fährt dort der Volksbank-Bus an. Das wären also 250.000 Euro, würde man den Bus streichen. Rund 130.000 Euro kostet die Anschaffung einer fahrbaren Zweigstelle, dazu kommen Unterhalt, Diesel und dann noch jährlich das Gehalt des Fahrers und derer, die ihn vertreten. Allein die neue Beschriftung habe kürzlich 1.800 Euro extra gekostet, stöhnt Ledig. »Eine Wirtschaftlichkeitsrechnung braucht man da nicht zu machen. Wir haben die Busse, damit die Kunden mit ihren anderen Geschäften bei uns bleiben«, sagt er. Mit den großen, die sich für die Bank rechnen, meint er. Auch Herr Fleischer leistet keinen Sozialdienst, wenn er seinen Kunden die Überweisungen ausfüllt, egal, ob sie mit dem Trecker hinter ihm parken oder mit dem BMW-Cabrio. Das Problem ist nur: Im Durchschnitt sind seine Kunden 70 Jahre aufwärts, »und Junge wachsen nicht nach«.
Herr Fleischer kriegt Abteilungsleitergehalt, denn er war mal so einer bei der Sparkasse. Er war nicht glücklich, sagt er. Aufgerieben habe er sich dabei. Als ein Bus frei wurde, sprang er sofort auf. Seitdem legt er eine seiner insgesamt vier Krawatten nur noch an, wenn die Presse und Frau Gramlich mitfahren, und nimmt dafür leidend lächelnd in Geroldstein, Niedergladbach, Obergladbach oder Fischbach den Spott seiner Kundschaft entgegen: »Na, haste heut noch was vor? Kommste von 'ner Beerdigung? Willste uns etwa beeindrucken?« Zurück in die Bank, zu Wichtigtuern, Mobbern, Radfahrern und Meetings - das will Herr Fleischer sich besser nicht vorstellen. Weitere Gegenargumente sind Computer und Schlips. »Ich liebe das Handwerk«, sagt er und tätschelt seine olle Buchungsmaschine. Außerdem sei er ein Eigenbrötler. An seinem Armaturenbrett steckt eine Pfeife, hinter dem Fahrersitz klemmt ein Besen, zu Füßen des leeren Beifahrersitzes liegen Arbeitshandschuhe, die aussehen, als würden sie ab und zu benutzt.
Elf Jahre
kümmert sich Herr Fleischer jetzt schon um »seinen« Lkw. Der Gedanke, ein fahrendes Objekt der Begierde für Bankräuber zu sein, hat ihn noch nie aus der Ruhe gebracht. In seiner gepanzerten Kabine kann er Alarm auslösen, dann macht der Naspa-Lkw »schrecklich laute Geräusche«, und sollten sie jemals erklingen, gibt es in jedem Dorf einen Beauftragten, der die Polizei zu rufen hat. In seinem Rücken ist ein Kippschalter, mit dem er die Zündung unterbrechen kann, »falls mir einer mein Auto unterm Hintern wegfahren will«. Benutzen musste er die Knöpfe noch nie, denn er führt zwar einige tausend Euro mit, aber es sind einige zu wenig für die fünf Jahre Gefängnis, die es mindestens für bewaffneten Banküberfall gibt. Einmal in 15 Jahren fuhr er unter Polizeischutz.
Nein, die Gefahr lauert dort, wo niemand sie vermutet. Abgesehen von Herrn Fleischer. Zum Beispiel im Gasthof Gladbachtal in Obergladbach. Genauer: in Putenschnitzel, Salat und Kroketten. »Schmeckt Ihnen das Essen?«, fragt Herr Fleischer, der hier auf Einladung des Hauses speist und der auch genau weiß, wer wie viel Geld beim vergangenen Börsenboom verloren hat, dem sich auch der Naspa-Mann mit seinen Tipps und der Untertaunus mit seinem Ersparten nicht ganz entziehen konnten und wollten. Kurz: »Die Wirtin hätte allen Grund, mich zu vergiften«, sagt Herr Fleischer und nippt vergnügt an seiner Cola.
Beate Flemming