Schlechte Nachrichten verkündet man am besten in Häppchen. Zugverspätungen werden zunächst gern auf zehn Minuten beziffert, danach geht es im Fünf-Minuten-Abstand weiter. "Salamitaktik" nennt man die Strategie, eine Katastrophe scheibchenweise zu präsentieren. Bei der Schlecker-Pleite lief es genauso. "Planinsolvenz" wurde das Ende der Drogeriekette zunächst genannt. Eine Sanierung sei möglich, hieß es. Da hatte das Unternehmen schon mehr als eine Milliarde Euro Schulden.
Die Nachricht erreichte Andrea Davis, 49, am 20. Januar 2012 am Tapeziertisch. "Neues Jahr, neues Glück", hatte sich die dreifache Mutter aus Bramsche in Niedersachsen gedacht und an ihrem freien Tag damit begonnen, pinke Tapetenbahnen auf die Wände im Zimmer ihrer Tochter zu kleben - als eine Kollegin anrief. "Schlecker ist pleite", sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. "Du spinnst", sagte Andrea Davis. Die Betriebsratsvorsitzende stand kurz vor ihrem 20. Jubiläum im Unternehmen.
Informationen nur scheibchenweise
Man hätte etwas ahnen können, sagt Andrea Davis heute. "Schon seit Monaten wurde nur die Hälfte der bestellten Waren geliefert." Druckerpatronen für die Faxgeräte in den Filialen waren nie dabei, also blieb die Mitteilung des Insolvenzverwalters in den Geräten hängen, und die Schlecker-Frauen erfuhren von der Pleite aus den Nachrichten. Einen Monat lang klammerten sie sich noch an die Hoffnung auf Rettung, bis ihnen am 29. Februar die nächste "Salamischeibe" aufgetischt wurde: Die Hälfte aller Schlecker-Filialen werde schließen, hieß es.
Einen Tag später folgte der kuriose Tipp von Philipp Rösler an die Beschäftigen: Jetzt gelte es, so der FDP-Chef, "schnellstmöglich eine Anschlussverwendung selber zu finden". Als seien sie Soldaten. "Eine Frechheit", findet Andrea Davis und fragt sich, warum der Begriff "Schlecker-Frauen" beinahe das "Unwort des Jahres" geworden wäre - und nicht Röslers Wortschöpfung. Eine neue Stelle hat sie bis heute nicht gefunden. 450-Euro-Jobs gäbe es, doch sie sucht einen Teilzeitjob, möchte sich wieder im Betriebsrat engagieren. Sollte Philipp Rösler den FDP-Parteivorsitz tatsächlich abgeben müssen, will sie ihm eine tröstende E-Mail schreiben: "Ich wünsche Ihnen, dass Sie schnellstmöglich eine Anschlussverwendung finden."
Angela Merkel verspricht schnelle Hilfe
Im März hatte die Hoffnung der Schlecker-Frauen einen Namen: Transfergesellschaft. Ein halbes Jahr lang hätte eine Auffanggesellschaft sie weiterbeschäftigt, ihnen bei Bewerbungen geholfen. Als der Bund eine Finanzierung versagte, fanden sich einige Länder bereit. Doch dann stellte sich die bayerische FDP quer. "Wir wollen ordentliche Beschäftigungsverhältnisse für die Schlecker-Beschäftigten und keine Scheinlösungen", erklärte die bayerische FDP-Vorsitzende Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Er sei zuversichtlich, dass die Schlecker-Frauen über die Bundesagentur für Arbeit in neuen Stellen vermittelt werden können, sagte Martin Zeil, FDP-Wirtschaftsminister im Freistaat.
Das nächste Stück Wahrheit im Fall Schlecker kam am 1. Juni 2012 auf den Tisch: Die Gläubiger beschlossen an diesem Tag, den Konzern endgültig zu zerschlagen. Somit war klar, dass keine Stelle erhalten bleiben würde - und die Politik versprach zu helfen. "Wir werden (...) alles daran setzen, dass die Beschäftigen (...) schnell wieder eine Arbeit bekommen", verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wenig später eilten ihr Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, zu Hilfe: Die Schlecker-Frauen, sollten sich in "Mangelberufen" wie Altenpflegerin und Erzieherin ausbilden lassen. Man wolle für eine vollwertige Umschulung sorgen. "Ich will den Frauen Mut zusprechen, einen Neuanfang zu wagen", so von der Leyen. Familienministerin Kristina Schröder sagte der "Süddeutschen Zeitung" in einem Interview, sie könne sich gut vorstellen, dass "unter diesen lebenserfahrenen Frauen viele mit Freude und Engagement diese neue berufliche Chance ergreifen wollen".
Notnagel 450-Euro-Job
Es dauerte nicht lange, und die Job-Oase entpuppte sich als Fata Morgana. Denn die Ausbildung zur Erzieherin oder Altenpflegerin dauert drei Jahre, die Arbeitsagenturen fördern aber nur bis zu zwei Jahre, das dritte Jahr müssten die Frauen aus eigener Tasche bezahlen. Im Oktober waren etwa die Hälfte der bis Juni entlassenen 25.000 Schlecker-Frauen noch immer arbeitslos gemeldet. 81 von ihnen hatten eine Umschulung zur Erzieherin begonnen.
Stefanie Kiehn, 50, findet die pauschale Job-Empfehlung der Politiker noch aus einem anderen Grunde unverantwortlich. "Einen sozialen Beruf muss man im Blut haben", sagt Kiehn, die 23 Jahre bei Schlecker war. "Man kann Menschen doch nicht einfach umschichten wie Papiere in Schubladen", sagt die ehemalige Betriebsrätin aus Saarbrücken. Sie hat sich für eine viermonatige Logistik-Fortbildung entschieden und bis heute parallel rund 50 Bewerbungen abgeschickt. Oft bekommt sie nicht einmal eine Absage. "Ich höre einfach gar nichts", sagt sie. Eine frustrierende Erfahrung. Bald will sie es über eine Zeitarbeitsfirma probieren - als Notnagel bliebe ein 450-Euro-Job. "Hauptsache nicht zu Hause rumsitzen", sagt sie.
Fast 12.000 suchen noch Arbeit
Auch Sabine Doleschal, 49, hat ihre Ansprüche an einen Arbeitsplatz deutlich runtergeschraubt - und das, obwohl sie eine Schlecker-Frau ist, wie sie sich die Arbeitsministerin nur wünschen kann: Als junge Frau hat Sabine Doleschal Erzieherin in der DDR gelernt, nach der Wende hat sie sich ihren Abschluss anerkennen lassen. Nach 16 Jahren bei Schlecker klappert sie seit September alle sozialen Einrichtungen in ihrem Heimatort Zwönitz im Erzgebirge und im Umkreis von 50 Kilometern ab. Und hört immer das gleiche: "Kein Bedarf." Jetzt bewirbt sie sich auch bei Zeitarbeitsfirmen und auf 450-Euro-Jobs.
Schlecker-Frauen, die mit der ersten Entlassungswelle im März von Bord gespült wurden, können sich im Nachhinein glücklich schätzen. Schließlich waren sie die ersten, die sich auf freie Stellen bewarben. Wen es erst im Juni erwischte, hat es schwerer. Das geht aus den Zahlen hervor, die BA-Chef Frank-Jürgen Weise zu Weihnachten 2012 präsentierte. Demnach seien von ehemaligen 23.400 Schlecker-Angestellten 9000 wieder in Arbeit. Fast 12.000 suchen noch Arbeit, zwei Drittel davon sind aus der zweiten Entlassungswelle.
Wie Susan Kreisz aus Kastl in Bayern, die im Herbst eine Schulung zur Personalsachbearbeiterin begann. Vier Monate sollte der Lehrgang dauern, doch dann fing ihr Sohn eine zweite Ausbildung an, weil er in seinem Beruf als Glaser keine Arbeit fand. Zwei Monate vor Ende der Umschulung musste Susan Kreisz abbrechen und wieder arbeiten gehen. Von weniger Geld muss sie jetzt zwei Mieten bezahlen, Zuschüsse bekommt sie nicht. Als sie der Arbeitsagentur vorrechnete, dass sie und ihr Sohn weniger als das Existenzminimum haben, hatte ihr Berater einen Tipp: "Warum bricht ihr Sohn die Ausbildung nicht einfach ab?" Er würde schon einen Job in einer Leihfirma finde. Oder er melde sich arbeitslos. Beides gäbe mehr Geld, als er jetzt hat. "Was ist das für ein System, das Menschen aus der Ausbildung drängt?", fragt Susan Kreisz. Und erinnert sich an die Worte von Frank Bsirske. Es könne nicht sein, dass die Ex-Schlecker-Mitarbeiterinnen jetzt als billige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, hatte der Ver.di-Chef gesagt.