Karlsruhe kippt Regelsätze Muss Hartz IV komplett auf den Prüfstand?

Nach der Reform ist vor der Reform: Auf stern.de diskutieren der linke Ökonom Rudolf Hickel und der neoliberale Kollege Johann Eekhoff über die Folgen des Hartz-Urteils und menschenwürdige Jobs.

Ein Ende dem Lohndumping

Der Urteilsspruch lässt nichts an Deutlichkeit vermissen: Die Vorschriften, die die Regelleistungen im Rahmen von Hartz IV für Erwachsene und Kinder bisher definieren, sind ohne wenn und aber verfassungswidrig. Zugleich wird die Aufgabe des "Grundrechts auf die Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums" nach Artikel 1 GG definiert: Es "sichert jedem Hilfsbedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind". Dem Bundesverfassungsgericht sei großer Dank.

Während sich die Politik in dieser Frage blamiert hat, sorgen die Grundgesetzwahrer für Gerechtigkeit. Diese Ohrfeige sitzt. Denn die Politik hat bisher mit statistischen Pseudomethoden und veralteten Daten immer wieder versucht, dieses ableitbare Existenzminimum dem haushaltspolitischen Opportunismus zu opfern.

Mit dem heutigen Regelsatz von 359 Euro, dem Zahlungen für die Unterkunft hinzugefügt werden, ist das Minimum einer finanziellen Basis für ein menschenwürdiges Leben nicht gesichert. Bei den bisherigen Abschlägen für Kinder (unter sechs Jahren 60 Prozent (215 Euro), unter 14 Jahren 70 Prozent (251 Euro) und zwischen 14 bis 18 Jahren 80 Prozent (287 Euro) offenbart sich die Willkür allerdings nie durch Überschreitung, sondern Unterschreitung des durch einen angemessenen Warenkorb bestimmten Existenzminimums für Kinder.

Hartz IV muss auf den Prüfstand

Vielfach ist auf die Perversion in Folge dieser prozentualen Abschlagsarithmetik hingewiesen worden. In vielen Bereichen - vor allem der Teilnahme an den Bildungseinrichtungen - ist der Finanzierungsbedarf bei Kindern vergleichsweise höher als bei Erwachsenen. Ärgerlich ist auch, dass der Anteil an Ausgaben für Zigaretten mit einem Abschlag den Kindern zugerechnet wird. Diesem Zynismus der Politik hat das Bundesverfassungsgericht ein Ende gesetzt. Jetzt müssen zeitnah und angemessen die Bedarfssätze ermittelt und fixiert werden.

Dieses Urteil sollte zum Anlass genommen werden, die gesamte Hartz IV-Regulierung auf den Prüfstand zu stellen. Dabei stehen zwei Kritikpunkte im Vordergrund: Ist die Zumutbarkeit prekärer Jobs, die auch noch ein Lohndumping verstärken, mit der Menschenwürde vereinbar? Ist es verfassungsrechtlich zulässig, die Empfänger dieser sozialen Leistungen erst einmal durch einen Verzicht auf Vermögen - bis zu einem verleibenden Rest-Schonvermögen - arm zu machen? Jedenfalls hat dieses Urteil sozialer Vernunft Folgen für andere Vorgaben zum Existenzminimum. Zu überprüfen ist, ob der Grundfreibetrag bei der Lohnsteuer mit derzeit 8004 Euro (Alleinstehende) dem verfassungsrechtlich reklamierten Prinzip der Existenzsicherung entspricht.

Jeder muss für sich selbst sorgen

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist eine Aufforderung an den Gesetzgeber, die Regelsätze für Empfänger von Hartz IV-Leistungen genauer zu begründen und die Ansprüche klarer und nachvollziehbarer zu gestalten. Diese Aufgabe ist nicht einfach zu lösen, weil die Hilfsbedürftigkeit stark von der individuellen Situation und der Leistungsfähigkeit der Empfänger abhängt.

Mit der Umstellung von der Arbeitslosenhilfe auf das Arbeitslosengeld II im Jahr 2005 sind die öffentlichen Leistungen um mehr als 10 Milliarden Euro bzw. um mehr als 20 Prozent gestiegen. Das Bundesverfassungsgericht ist auch vorsichtig, indem es nicht eine generelle Erhöhung der Leistungen verlangt.

Grundsätzlich hat jeder Bürger so weit wie möglich für sich selbst zu sorgen. Die Selbsthilfemöglichkeiten und Lebensbedingungen sind so vielfältig, dass es extrem schwierig ist, die notwendigen Hilfen eindeutig festzulegen. Empfänger von Arbeitslosengeld II können am ehesten durch eigene Arbeitsleistungen zu ihrem Lebensunterhalt beitragen. Es geht nicht darum, in jedem Fall den vollen Lebensunterhalt zu erwirtschaften, sondern mit eigenen Einkünften die Kosten für die übrigen Bürger gering zu halten.

Ist der Wohnstandard angemessen?

Würden alle Empfänger von Arbeitslosengeld II eine Beschäftigung aufnehmen und im Durchschnitt 2,50 Euro pro Stunde verdienen, ergibt sich ein Spielraum in den öffentlichen Haushalten von rund 10 Milliarden Euro pro Jahr. Selbstverständlich gibt es Hinderungsgründe. Aber motivierte Hilfebezieher sollten nicht durch Mindestlöhne oder die Forderung, wer arbeite müsse soviel Lohn bekommen, dass er davon leben könne, blockiert werden. Selbsthilfe bedeutet auch, dass Teile des Lebensunterhalts erwirtschaftet werden.

Hier besteht ein Konflikt mit den Hinzuverdienstgrenzen. Die Gesellschaft ist verpflichtet, jedem Menschen ein menschenwürdiges Mindesteinkommen zu sichern – soweit und nur soweit er nicht in der Lage ist, dies aus eigener Kraft zu erreichen. Nach diesem Grundsatz muss dem zu Unterstützenden soviel von seinem Einkommen belassen werden, dass er die zusätzlichen Kosten decken kann.

Wenn über die Regelsätze nachgedacht wird, ist auch zu fragen, ob der Wohnstandard angemessen ist. Die gerichtlich akzeptierten Wohnflächen orientieren sich am sozialen Wohnungsbau, der nicht für Transferempfänger, sondern für breite Schichten der Bevölkerung gedacht war. Insgesamt wird viel Fingerspitzengefühl erforderlich sein, die geltenden Regelungen an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts anzupassen.

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