Eigentlich verlangt das Grundgesetz, dass im gesamten Bundesgebiet einheitliche oder zumindest gleichwertige Lebensverhältnisse herrschen. Spätestens seit der Wiedervereinigung ist dieses Grundrecht aber kaum mehr als eine Theorie. Wie groß die Unterschiede auch 20 Jahre nach dem Mauerfall noch sind, zeigen die nun veröffentlichten Daten des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2008. Danach ist die Gefahr, in die Armut abzurutschen im Osten Deutschlands weiterhin deutlich höher als im Westen. Bundesweit steht jeder Siebte (knapp 15 Prozent) an der Schwelle zur Armut. Laut einer Studie mit dem Titel "Leben in Europa 2008" läge die Quote ohne die Sozialleistungen des Staates sogar bei 24 Prozent. Dazu passt, dass die Zahl der Sozialhilfe-Empfänger zuletzt wieder gestiegen ist: Im Jahr 2008 bezogen 1,2 Millionen Menschen die Zuwendungen - 6,2 Prozent mehr als im Jahr zuvor.
Die Zahlen, die Wiesbadener Bundesstatistiker nun vorgelegt haben, sind nicht nur für den Osten besorgniserregend. Denn auch im besser dastehenden Westen ist der Trend negativ. In den Ländern der alten Bundesrepublik stieg der Anteil von Armut bedrohter Menschen ebenfalls an - wenn auch mit 0,2 Prozent auf jetzt 13,1 Prozent nur leicht. In den neuen Bundesländern ist sogar jeder Fünfte knapp davor, zu wenig zu verdienen, um davon seinen Lebensunterhalt gestalten zu können.
Armut beginnt für Familien bei 1652 Euro
Besonders schlimm ist es schon seit Jahren in Mecklenburg-Vorpommern. In dem nordöstlichen Bundesland fehlen Jobs und Perspektiven, die Menschen verlassen auf der Suche nach Arbeit ihre Heimat. Die, die bleiben, müssen den Gürtel sehr eng schnallen. Fast jeder Vierte (24 Prozent der Einwohner) steht in dem Land an der Ostsee an der Armutsschwelle. Auf der anderen Seite der Skala stehen die vergleichsweise reichen Südländer Baden-Württemberg und Bayern. Dort ist das Armutsrisiko deutlich geringer, doch muss sich auch hier jeder Zehnte ernsthafte Sorgen um seine Existenz machen.
Armutsgefährdet zu sein, bedeutet laut einer Definition der Europäischen Union, mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung auskommen zu müssen. Für Deutschland bedeutet das, dass 2008 der Grenzwert für Single-Haushalte bei 787 Euro lag. Bei Haushalten mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren betrug die Schwelle 1652 Euro. Diese Werte sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in den vergangenen vier Jahren stets gestiegen.
Tafeln und Suppenküchen haben Zulauf
Obwohl die öffentliche Hand immer mehr Geld ausgibt, um Bedürftige zu unterstützen - im Jahr 2008 allein für die Sozialhilfe 19,8 Milliarden Euro -, scheint es vielen Betroffenen und Beobachtern, dass sich Deutschland zu einem "Almosen- und Suppenküchenstaat" entwickelt. "Der Staat zieht sich mehr und mehr zurück", stellt beispielsweise der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, in der ARD-Dokumentation "Arm und abgeschrieben" (16. Dezember, 23.30 Uhr) fest. Kirchliche Lebensmittel-Tafeln und Kleiderkammern hätten immer größeren Zulauf - obwohl die Kirchenbänke nach wie vor leer bleiben. Der Grund: Selbst mit staatlichen Hilfen reicht das Einkommen oft nicht mehr, sich auf den eigenen Beinen zu halten.
Die Suche nach Arbeit bietet für die Betroffenen ebenfalls kaum Hoffnung auf Besserung. Zwar konstatiert das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), dass die Lage auf dem Arbeitsmarkt angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise ohne die Hartz-IV-Reformen noch viel schlechter wäre. Dennoch gilt, so das IAB in einer Bilanz zu fünf Jahren Hartz IV, die am Dienstag in Berlin vorgelegt wurde: "Der Ausstieg aus Hartz IV gelingt immer noch relativ selten."
Nach Hartz IV bestenfalls Teilzeitjobs
IAB-Direktor Joachim Möller spricht trotz allem von einer "verhalten positiven Hartz-IV-Bilanz". In der Tendenz würden die angestrebten Ziele der Arbeitsmarktreform erreicht. Probleme gebe es aber noch bei der Betreuung der Langzeitarbeitslosen. Untersuchungen seines Instituts zeigten, dass die von den Vermittlern ausgewählten Förderinstrumente häufig nicht geeignet seien, die Probleme von Erwerbslosen zu lösen. So sollten beispielsweise Ein-Euro-Jobs nur an Jobsucher vergeben werden, die schon lange keine Arbeit mehr hatten, statt Arbeitgebern die Möglichkeit zu geben, billige Arbeitskräfte zu bekommen. Auch Alleinerziehende bräuchten mehr Unterstützung als bisher. Viele könnten wegen fehlender Kinderbetreuung keine Arbeit antreten und blieben so in der Armutsfalle.
Selbst wer den Sprung zurück ins Erwerbsleben findet, hat damit laut IAB noch nicht alle Hürden überwunden. Die Arbeitsbedingungen in Jobs, die Hartz-IV-Empfänger bekommen, sind laut Möller in der Regel schlechter als bei anderen Arbeitsstellen. "Die Hälfte der Jobs sind befristet", ergänzt Mark Trappmann, Leiter der IAB-Studie, "29 Prozent arbeiten unterhalb ihres Qualifikationsniveaus". Dennoch sei der schlechte Ruf der Hartz-IV-Reformen in erster Linie auf eine "katastrophale Öffentlichkeitsarbeit" zurückzuführen. Die Ärmsten der Armen hätten im Vergleich mit der alten Sozialhilfe sogar gewonnen. "Die Armut ist gleicher geworden", stellt Möller fest. Auch ein Weg, die Vorgaben des Grundgesetzes zu erfüllen.