Angesichts der schleppenden Binnennachfrage bleiben Konjunkturforscher bei ihren düsteren Wachstumsprognosen für Deutschland. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) senkte am Dienstag seine Vorhersage für dieses Jahr von 0,9 auf 0,6 Prozent. Das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA) rechnet unverändert mit 0,7 Prozent. Beide Institute gehen nun von 4,2 Millionen Arbeitslosen aus.
Auch in der rot-grünen Koalition wackelt die im Vergleich dazu optimistische Regierungsprognose von 1,5 Prozent. Die finanzpolitische Sprecherin der Grünen, Christine Scheel, sagte dem Berliner «Tagesspiegel», sie rechne mit einer Revision «auf ein Prozent oder wenig darüber». Hingegen hält Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) an der Wachstumsprognose der Bundesregierung fest und warnte davor, ständig neue Prognosen aufzulegen. Eine neue Einschätzung will die Bundesregierung am 29. Januar in ihrem Jahreswirtschaftsbericht abgeben.
«Wir sehen derzeit kein Licht am Ende des Tunnels», sagte der Chef der Union Mittelständischer Unternehmen (UMU) Hermann Sturm. Der Stellenabbau im deutschen Mittelstand werde sich einer UMU-Umfrage zufolge in diesem Jahr fortsetzen. Ein Großteil der Unternehmen (41,9 Prozent) rechne mit einer weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage.
Die als konjunktureller Frühstarter geltende Chemie-Branche klagte ebenfalls über trübe Aussichten. Vor der Tarifrunde 2003 prognostizierte der Bundesarbeitgeberverband Chemie, bei der Produktion sei nur mit einer Steigerungsrate «mit einer eins vor dem Komma» zu rechnen.
Die schwache Konjunktur in Deutschland resultiert nach Meinung der Wirtschaftsforscher von DIW und HWWA in erster Linie aus der schwachen Binnennachfrage. «Die hartnäckige Schwäche des privaten Verbrauchs ist ein Spiegelbild der Probleme am Arbeitsmarkt», sagte HWWA-Konjunkturexperte Eckhardt Wohlers. Auch die schleppende Erholung der Weltwirtschaft wirke sich negativ auf die deutsche Konjunktur aus, erklärte DIW-Präsident Klaus Zimmermann.
Sorge bereitet Konjunkturexperten die Preisentwicklung. Nachdrücklich warnte das DIW vor einer Deflation, also einer Spirale mit dauerhaft sinkenden Preisen und schrumpfender Wirtschaftsleistung. Die aktuelle Inflationsrate von geschätzten 0,6 Prozent werde vor allem von Steuer- und Abgabenerhöhungen bestimmt, sagte der DIW-Konjunkturexperte Gustav Horn. Zusammen mit der Schwäche der Aktienmärkte und der Konsumflaute ergebe dies das gleiche Bild wie in Japan kurz vor Beginn der dortigen Deflation.
«Der Zustand ist düster. Nur wenn Reformen in Angriff genommen werden, lässt sich der lähmende Nebel lichten, der sich über das Land gelegt hat», sagte der DIW-Präsident. Ein radikaler Umbau des Steuersystems könne der Wirtschaft auf die Beine helfen. Auf niedrige Einkommen sollten künftig deutlich weniger Steuern gezahlt werden, forderte Horn. Im Gegenzug solle die Mehrwertsteuer von 16 auf 19,5 Prozent angehoben werden.
Die gewerkschaftliche Position, dass durch kräftige Lohnerhöhungen die Nachfrage gesteigert werden könne, sei empirisch nicht zu belegen, erklärte HWWA-Experte Wohlers. DIW-Präsident Zimmermann forderte die Arbeitgeber auf, hart zu bleiben und eine «reale Nullrunde» durchzusetzen. «Ein Streik wäre Gift für die Konjunktur, insbesondere in der jetzigen ernsten Lage», sagte auch der Konjunktur-Experte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Michael Grömling.
Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel (SPD) plädierte unterdessen dafür, die wegen der Flutkatastrophe auf 2004 verschobene Steuerreform zur Konjunkturbelebung wieder auf den 1. Juli vorziehen.
Die Auswirkungen des US-Konjunkturprogramms, das am Dienstagabend veröffentlicht werden sollte, beurteilten die Wirtschaftsforscher skeptisch. Die massiven Steuersenkungen würden sowohl im US-Haushalt als auch in der Leistungsbilanz zu einer Verdopplung der Defizite führen, sagte Wohlers. Das würde wohl den Kurs des US-Dollar drücken, mit negativen Folgen für die deutsche Exportwirtschaft.