Pflegeversicherung Die Heim-Suchung

Knapp 2,13 Millionen Deutsche sind pflegebedürftig, Tendenz steigend. Grund: Die zunehmende Überalterung unserer Gesellschaft. stern.de sprach mit Buchautor Christoph Lixenfeld über die Folgen der Pflegeversicherung, die Heimbranche und warum es ohne Osteuropäerinnen nicht mehr geht.

In Deutschland leben rund 2,13 Millionen Pflegebedürftige im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes. Davon wohnen knapp 677.000 in Heimen. 1,45 Millionen Menschen, also etwa 68 Prozent, werden zu Hause versorgt. Noch. Zwar übernehmen bisher bei knapp einer Million Menschen Familienangehörige die Pflege, doch die demografische Entwicklung lässt Böses ahnen: Es gibt immer mehr Paare ohne Kinder und immer mehr Frauen mit Job. Wer soll also später die familiäre Pflege übernehmen? Aber soll deshalb Deutschland gleich mit Pflegeheimen überzogen werden? Nein, meint Autor Christoph Lixenfeld im stern.de-Interview. Ein Gespräch über die Heimbranche, die Pflegelobby - und warum die Pflegeversicherung in der heutigen Form das Dilemma zementiert.

Zur Person

Christoph Lixenfeld arbeitet seit 1994 als freier Journalist in Hamburg. Mit dem Thema Altenpflege beschäftigt er sich seit vielen Jahren. Mitte Januar erscheint sein jüngstes Buch im Econ-Verlag: "Niemand muss ins Heim", Menschenwürdig und bezahlbar - ein Plädoyer für die häusliche Pflege.

Herr Lixenfeld, Sie finden die Pflegeversicherung grundsätzlich in Ordnung, kritisieren aber "Konstruktionsfehler". Welche?

Da gibt es vor allem zwei: Der erste Konstruktionsfehler ist der Sachleistungsbezug. Die Gründer der Pflegeversicherung haben gesagt, das Ganze muss messbar sein, damit wir es quantifizieren und zuteilen können. Damit diese Zuteilung funktioniert, ist jede einzelne Leistung in der Pflegeversicherung katalogisiert. Für das Kämmen bezahlt sie 88 Cent, für Frühstück machen 4,40 Euro ... und so weiter.

Was nicht katalogisiert ist, kann man nicht abrechnen und das wird dann auch nicht angeboten?

Genau, nur was katalogisiert ist, ist auch abrechenbar. Bevor es die Pflegeversicherung gab, habe ich bei alten Leuten Zivildienst geleistet. Vielen von ihnen haben Sozialhilfe bezogen. Für die Menschen war das deutlich besser als die heutige Regelung, weil das Sozialamt ihnen eine oder zwei Stunden Unterstützung genehmigt hat. In dieser Zeit konnten wir dann machen, was die wollten.

Sie haben also ein Budget für eine gewisse Zeiteinheit bekommen?

Genau, und in diesen Zeiteinheiten waren wir zum Beispiel angehalten, die Wohnung zu putzen. Wenn die Wohnung sauber war, haben wir gesagt, jetzt gehen wir spazieren oder fahren ins Grüne. Darüber waren die alten Menschen oft viel glücklicher. Das geht in Zeiten der Pflegeversicherung nicht mehr. Die Leute werden abgefertigt, die werden gewaschen, kriegen eine Stulle gemacht und dann geht die Pflegerin wieder nach Hause. Denn zu mehr hat sie keine Zeit weil sie mehr nicht bezahlt bekommt. In der ambulanten Pflege läuft es im Grunde ab wie in einer Fabrik.

Ein Pflegebudget wäre besser?

Ja, und es gibt ja auch einen Ansatz, das einzuführen. Jetzt läuft es so: Das Geld bekommt nicht derjenige, der pflegebedürftig ist, sondern es gibt eine direkte Abrechnung zwischen dem ambulanten Pflegedienst und der Pflegekasse. Die Idee des Pflegebudgets ist dagegen: Der Pflegebedürftige bekommt einen Betrag X in die Hand und kann davon Leistungen einkaufen, wie er will. Nur die Lobbyisten der ambulanten und stationären Pflege wehren sich mit Händen und Füßen gegen dieses Budget.

Was fürchten die Lobbyisten denn?

Ich vermute, dass sie vor allem nicht über ihre Leistungen und deren Qualität mit den Kunden diskutieren wollen. Es ist eben praktischer, wenn der Pflegebedürftige Zuteilungsempfänger bleibt und nicht zum Kunden wird. Wenn ich selber Geld in der Hand habe und Leistungen damit bezahle, dann sorge ich auch dafür, dass ich vernünftig behandelt werde. Im Gegensatz dazu ist es für die Pflegedienste natürlich einfacher, mit einer Behörde abrechnen, die weit weg ist und kaum kontrolliert - . Die Pflegebranche hat sich in dieser Zuteilungswirtschaft komfortabel eingerichtet und sie lebt gut davon. Das Pflelgebudget bleibt ein Modellversuch in einigen Städten. Der endet in diesem Jahr, die ursprünglich geplante Ausdehnung auf ganz Deutschland wird es - jedenfalls in absehbarer Zeit - nicht geben.

Zurück zur Pflegeversicherung. Welchen Konstruktionsfehler sehen Sie noch?

Nach dem Sachleistungsbezug ist es der Umgang der Pflegeversicherung mit den Heimen. In der Pflegestufe eins und zwei ist der Betrag, den die Pflegeversicherung für Heimunterbringung bezahlt, deutlich höher als für die ambulante Pflege zu Hause. Wobei in der Pflegereform von 2003, die im Januar 2004 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder gestoppt wurde, noch geplant war, dass es in der Pflegestufe eins weniger Geld für die Heime gibt und das Geld in die ambulante Pflege gesteckt wird.

Sie kritisieren auch, dass die Pflegeversicherung in ihrer jetzigen Form keine Anreize bietet, pflegebedürftige Menschen so lange wie möglich daheim zu versorgen.

Sicher ist: Für Pflegeheime und Heimbetreiber ist das aktuelle System nahezu optimal. Sie können - jedenfalls ökonomisch - kaum ein Interesse daran haben, dass Menschen gesünder werden oder von Pflegestufe drei auf zwei zurückgestuft werden. Am Besten ist es für Pflegeheime, wenn die Bewohner zwar nicht sofort sterben, aber zugleich auch nicht fitter werden.

Aber das muss für die Pflegeversicherung doch viel zu teuer sein...

Für die Pflegeversicherung ist die Heimunterbringung natürlich teuer. In den beiden unteren Pflegestufen wird für die Heimunterbringung mehr bezahlt als zu Hause. Also ist es für Sozialämter, die ja häufig zuzahlen müssen, in vielen Fällen deutlich billiger, die Menschen in ein Heim zu nötigen, als sie zu Hause pflegen zu lassen.

Gehen wir einmal davon aus, dass keine Angehörigen da sind oder keine Zeit für die Pflege haben. Ab wann kann das Sozialamt verlangen, dass jemand ins Heim kommt?

Das ist eine interessante Frage. Sozialämter sagen häufig klipp und klar: Wir bezuschussen deine Unterbringung daheim nur bis zu dem Betrag, den uns auch das Heim kosten würde, darüber hinaus nicht. Die sagen: Wenn es teurer wird, dann musst du eben ins Heim ziehen.

Sind da nicht günstige Heime eine Marktlücke?

Natürlich, aus Sicht der Betreiber sind sie das. Und es gibt ja auch schon einen Heim-Konzern, der angekündigt hat, sogenannte Zwei-Sterne-Immobilien zu bauen, also Billig-Heime. Und der ausdrücklich davon ausgeht, dass die Sozialämter zukünftig für eine gute Belegung dieser Heime sorgen werden. Leider wird er damit vermutlich recht behalten. Denn je billiger ein Heim ist, desto mehr lohnt es sich für das Sozialamt, seine Kunden dort unterzubringen.

Jetzt könnte man natürlich einwenden, nur weil ein Anbieter etwas clever und billig macht, muss es ja nicht gleich schlecht sein.

Fast jede Sparbemühung in Heimen geht auf Kosten der Bewohner. Da ist zunächst die Fläche: Die alten Leute dürfen nicht zu viel Platz wegnehmen, denn Fläche kostet Geld. Ein ganz wichtiger Punkt bei der Ausstattung von Heimen sind außerdem die Badezimmer, sie treiben die Baukosten hoch. Deshalb gibt es Heime mit Doppelzimmern, in denen sich vier Personen ein einziges Bad teilen müssen. Der zweite Punkt sind die Personalkosten: Sie machen 60 bis 70 Prozent der Betriebskosten aus. Wenn ich sparen will, muss ich am Personal sparen und das heißt eben, dass weniger Zeit für die Menschen da ist. Die Vorstellung, es gebe eine kosteneffiziente Menschlichkeit, ist schlicht pervers. Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche andere bezahlbare Möglichkeit es für eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung gibt.

Was kann aber eine Familie tun, die feststellt, dass ein Mitglied eben nicht mehr gesund und fit ist, und die die Pflege nicht allein leisten kann?

Dann kann diese Familie einen Antrag auf Leistungen bei den Pflegeversicherern stellen, dann kommt ein Gutachter und prüft die Pflegebedürftigkeit.

Diese Frage ist ja gerade nicht ausgeurteilt, deshalb lässt sich auch nicht abschließend sagen, was legal ist und was nicht. Garantiert legal ist nur die Vermittlung von "Haushaltshilfen" über die Arbeitsagenturen. Doch das ist kompliziert und bürokratisch. Garantiert illegal ist die Beschäftigung von nicht angemeldeten Schwarzarbeiterinnen. Dazwischen gibt es andere Wege, wie Pflegekräfte nach Deutschland vermittelt werden.

Welche denn?

Eine Möglichkeit ist, dass die Pflegehilfe im Heimatland angestellt ist und von dort nach Deutschland entsendet wird. Doch hier sagt der Zoll, dass sie im Grunde keinerlei Weisung von der Familie annehmen darf, bei der sie arbeitet - nur vom Arbeitgeber in ihrer Heimat. Das ist natürlich absolut realitätsfern. Deshalb muss man hinter die Behauptung vieler Vermittler, die Entsendung sei hundertprozentig legal, ein großes Fragezeichen setzen. Die zweite Möglichkeit ist die Vermittlung von Selbstständigen. Ich empfehle ganz klar: Nehmen Sie Leute, die sowohl im Heimatland als auch in Deutschland selbstständig sind. Diese Konstruktion gibt es…

…inklusive Kranken- und Unfallversicherung…

…ja und wenn dieser Begriff nicht unsinnig wäre, würde ich sagen: Das ist die legalste aller Konstruktionen. Der einzige Vorwurf, den man so einer Pflegehilfe machen kann, ist der der so genannten Scheinselbstständigkeit. Ganz abgesehen davon, dass ich diesen Vorwurf für hirnrissig halte, muss man ihn erst einmal beweisen. Familien, die mit Hilfe dieser Konstruktion eine Kraft engagieren, kann im Grunde nichts passieren.

Wie ließen sich osteuropäische Pflegerinnen legalisieren? Indem man den Vorwurf der Scheinselbstständigkeit grundsätzlich fallen lässt?

Genau. Und indem man verbindliche Regeln für die Beschäftigung der Kräfte aufstellt, statt seriöse Vermittler zu verfolgen. Indem man endlich sagt, okay, eine bestimmte Vermittlungskonstruktion erkennen wir an. Diese Leute dürfen legal hier sein, fertig.

Und dass das nicht passiert, liegt das an der Lobbyarbeit der Verbände?

Ein direktes Ursache-Wirkungsverhältinis ist bei Lobbyarbeit ja eigentlich nie zu beweisen. Auffällig ist aber: Gewerkschaften sind gegen Legalisierung, denn sie tun ja in erster Linie etwas für Angestellte und nicht für Selbstständige. Und die Pflegebranche ist ein riesiger Jobmotor, hier arbeiten sehr viele Menschen. Also wollen die Gewerkschaften deren Jobs schützen. Wenn viele Pflegekräfte aus Osteuropa legal bei uns arbeiten, dann ist das eine Bedrohung für die Branche. Dann heißt es, da wird Dumping betrieben und das wollen wir nicht.

Sind diese Pflegehilfen aus dem Osten wirkich so günstig? Wie viel verdient denn eine osteuropäische Pflegerin im Haushalt?

Ein Pflegehelfer im Heim verdient mit Zulagen rund 1500 Euro brutto, wobei es hier natürlich erheblich Unterschiede gibt. Die Pflegerinnen, die so vermittelt werden, wie ich das beschrieben habe, kosten auch etwa 1500 Euro. Davon kommen bei ihnen selbst etwa 1000 bis 1200 Euro an. Dafür sind sie rund um die Uhr da, wohnen im Haus - und machen im Regelfall einen viel härteren Job mit sechs bis sieben Arbeitstagen in der Woche.

Und der Bedarf ist da...

Natürlich, viele Familien haben keine andere Chance. Die rund 100.000 ausländischen Pflegekräfte werden bleiben. Zu hoffen, man könnte sie kriminalisieren und sie würden dann wieder verschwinden, ist doch realitätsfern. Wir müssen also einen Weg finden, sie zu legalisieren. Sie sind hier, weil wir sie brauchen. Und in Zukunft werden wir mehr auf sie angewiesen seindenn je.

Interview: Karin Spitra