Nach der verletzungsbedingten WM-Absage von René Adler streiten Tim Wiese und Manuel Neuer um den Platz im Tor der Nationalmannschaft. Wir haben beide Kandidaten einmal verglichen.
Auf der Linie:
Tim Wiese:
Wiese verfügt auf der Linie über ein herausragendes Torwartspiel. Der Bremer Schlussmann antizipiert immer wieder Situationen und reagiert dann mit unfassbaren Reflexen. Hier eine zuckende Hand, da ein herausschnellendes Knie - Wiese ist auf der Linie eine Klasse für sich.
Manuel Neuer:
Sicherlich eine der großen Stärken Neuers. Mit unglaublichen Reflexen ausgestattet kann er die gegnerischen Stürmer zur Verzweiflung treiben, in Eins-zu-Eins-Situationen unglaublich präsent und nervenstark.
stern.de-Urteil:
Unentschieden
Strafraumbeherrschung:
Tim Wiese:
Das war mal eine Schwäche von Wiese, aber die Zeiten sind längst vorbei. Zögerte er früher manchmal zu lang beim Herauslaufen, ist er mittlerweile in der Lage, sein Gehäuse rechtzeitig zu verlassen und brenzlige Situationen zu bereinigen. Und dann gilt: Wo Wiese auftaucht, wächst kein Gras mehr. Gesteigert hat sich Wiese auch deshalb beim Herauslaufen, weil er dank weniger Krafttraining geschmeidiger und schneller geworden ist. Etwas Luft nach oben gibt es bei Wiese noch in Sachen Lufthoheit. Bei Standards segelt Wiese manchmal noch an Bällen vorbei. Das kann während einer WM schon mal tödlich enden.
Manuel Neuer:
Die große Schwäche des Manuel Neuer. Unterläuft gerne mal eine Flanke und hat nicht immer das perspektivische Auge. Aber gerade über Standards können bei der WM enge Spiele entschieden werden, daher muss sich Neuer in diesem Bereich gewaltig steigern. Schafft er das bis zur WM? Fraglich.
stern.de-Urteil:
Vorteil Wiese
Spieleröffnung:
Tim Wiese:
Eine der wenigen Schwächen von Wiese. Wird er von seinen Vorderleuten mit Rückpässen in die Bredouille gebracht, landen seine Befreiungsschläge meist im Oberrang bzw. beim Gegenspieler. In Sachen Spieleröffnung verkörpert Wiese eher die alte Torwartschule seines Mentors Gerry Ehrmann: Hauptsache weg das Ding! Auch seine Abwürfe sind in der Liga nicht unbedingt gefürchtet.
Manuel Neuer:
Neuer ist der moderne Prototyp und verkörpert den Torwart der Zukunft. Mit gewaltigen und zielgenauen Abwürfen macht er das Spiel schnell, eine Fähigkeit, die Bundestrainer Joachim Löw äußerst an ihm schätzt. Allerdings birgt dieses Spiel auch Gefahren, Neuers offensive Interpretation des Torwartspiels provoziert Fehler.
stern.de-Urteil:
Vorteil Neuer
Elfmeter:
Tim Wiese:
Spätestens seit dem legendären DFB-Pokalhalbfinale gegen den HSV im letzten Jahr gilt Wiese als Elfmeterkiller. Insgesamt hat der gebürtige Kölner 10 der letzten 14 Strafstöße gehalten. In der Bundesliga bekam wieder in dieser Saison einen Elfmeter gegen sich ausgesprochen. Gegen Hoffenheim parierte der Schlussmann den Strafstoß von Carlos Eduardo souverän. Gerade bei einer Weltmeisterschaft braucht es solche Elfmeter-Spezialisten wie Wiese mit Nerven aus Stahl.
Manuel Neuer:
Zwar platzt Neuer schier vor Selbstvertrauen und Nervenstärke. Als Elfmeterkiller hat er sich aber noch nicht hervorgetan. Dabei wäre das so wichtig für die deutsche Nationalmannschaft, die bei einer WM gerne mal den Nerventhriller aus elf Metern sucht. Allerdings hatte Neuer auch noch nicht so viele Gelegenheiten sich auszuzeichnen, siehe nächster Punkt.
stern.de-Urteil:
Vorteil Wiese
Internationale Erfahrung:
Tim Wiese:
Der 28-Jährige hat mit 193 Spielen große Bundesliga-Erfahrung. Aber damit nicht genug: Wiese spielt seit 2005 dauerhaft international (insgesamt 44 Spiele), vier Jahre davon in der Champions League. Der Bremer weiß, was es bedeutet, im Bernabeu-, Nou Camp- oder Giuseppe-Meazza-Stadion zwischen den Pfosten zu stehen. Wiese kennt sich mit Druck aus. Es pusht ihn gar, von gegnerischen Fans angefeindet zu werden. Absolvierte bis jetzt zwei Länderspiele. Blieb gegen England (2008) und die Elfenbeinküste (2009) jeweils fehlerfrei.
Manuel Neuer:
Ganz klar ein Manko bei Neuer. Lediglich 15 Europapokaleinsätze stehen auf seinem Karrierekonto, zu wenig, um locker und gelöst das Stahlbad WM zu durchschwimmen. Gut, Neuer hat schon 121 Bundesligaspiele auf dem Buckel und wurde mit der U21 Europameister, aber das war Nachwuchskickerei. Wie reagiert der Schalker, wenn die Engländer permanent sein Tor belagern? Und wie schafft er es, seinen Vorderleuten die notwendige und immens wichtige Souveränität zu vermitteln? Fragen, die man sich bei Neuer stellen muss.
stern.de-Urteil:
Vorteil Wiese
Fankurve 2010
Das Social-Media-Angebot von stern.de zur Fußball-WM 2010:
Diskutieren Sie alle Fakten, Emotionen und Entscheidungen rund um die WM auf Facebook. Fankurve 2010 bietet Ihnen tägliche Informationen direkt aus dem stern.de-Sportressort und die Möglichkeit, mit unseren Fußball-Experten und anderen Fans zu debattieren. Werden Sie Fan!
Die etwas andere Sicht auf die Ereignisse in Südafrika haben Ralf Klassen und seine Co-Autoren im Fußball-Blog. Der stellvertretende stern.de-Chefredakteur bloggt unter Fankurve 2010 vor, während und nach dem großen Ereignis.
Fußballerische Fähigkeiten:
Tim Wiese:
Wiese hat kein Zauberfüßchen, das ist mal klar (siehe Punkt 'Spieleröffnung'). Am liebsten hält sich der Goalie der Grün-Weißen auf der Linie auf. Dribblings im eigenen 16-Meter-Raum sieht man von ihm auch deshalb praktisch nie. Wenn doch, so stockt einem der Atem. Auch wenn sich Wiese fußballerisch leicht steigern konnte, ein Lehmann wird er nie.
Manuel Neuer:
Neuer spielt mit, steht oft weit vor seinem Tor und versucht so gegnerische lange Bälle abzufangen. Der 21-Jährige kann's auch mit dem Fuß, ihn können seine Vorderleute mit ruhigem Gewissen in den Spielaufbau einbinden. Ein unschätzbarer Vorteil, wenn die Gegner mit Pressing agieren.
stern.de-Urteil:
Vorteil Neuer
Gesamturteil:
Tim Wiese von Werder Bremen gewinnt den Direktvergleich gegen Schalkes Neuer knapp mit 4:3. Sollte Bundestrainer Joachim Löw also rein leistungsorientiert denken und seine Nummer 1 nach diesen Kriterien auswählen, dann müsste Tim Wiese gegen Australien zum WM-Auftakt der DFB-Elf zwischen den Pfosten stehen.