Die Jünger Jesu fahren E-Scooter. Sie rollen durch den Bahnhof in Kassel, lächeln, als hätten sie gerade die Legalisierung von Cannabis gefeiert und trällern: "An Tagen wie diesen wünscht man sich Unsterblichkeit!". RTL-Reporterinnen spielen RTL-Reporterinnen und interviewen Jesus alias Popsänger Ben Blümel. Wie passend, denn in den 2000ern wurde er als Teenie-Schwarm angebetet und schon 2002 verkehrte er mit Engeln. Woher sonst hätte er damals wissen sollen: "Engel weinen, Engel leiden, Engel fühl‘n sich mal alleine".
Wer sich die Passion ansieht, hat vor allem einen Gedanken: Oh Gott. Aber es ist nicht fair, ihn in alles mit reinzuziehen, nur weil das Leben seines Sohnes erneut als Trash-TV verfilmt wird. Oder, wie es offiziell heißt, als "die größte Geschichte der Menschheit". Passend zu Ostern möchte RTL das Leid und die Wiederauferstehung Jesu Christi wie schon 2022 auf eigene Art erzählen. Dieses Mal in der heiligen Stadt Kassel. "Unser Bevölkerungsmittelpunkt heute ist RTL und Kassel soll unser Jerusalem sein", sagt Schauspieler Hannes Jaenicke, der mit energischen Schritten die Bühne auf dem Kasseler Friedrichsplatz betritt. Früher, da hätten die Leute noch vor dem Ofen gestrickt und sich Geschichten erzählt, heute höre kaum noch jemand zu, bedauert er.
Gerade als man denkt: Es kann alles nicht absurder werden, sitzt am Kasseler Bahnhof Jenny Elvers auf dem Boden, die Augen von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt. "Jesus!", brüllt die Reality-Darstellerin. "Jesus!" Jesus Blümel ist sofort zur Stelle. "Mach, dass ich sehen kann", sagt Elvers. Blümel nimmt ihr die Sonnenbrille ab. "Du sollst sehen können. Dein Glaube hat dich gerettet."
Ermutigt von Jenny Elvers versucht man bei der Passion also beides: hinzusehen, obwohl der Fremdscham warnt wegzugucken und zu glauben. Daran, dass dieses Spektakel mal was anderes ist, dass es Religion auf moderne, kreative Weise erzählt. Und dann tritt Jimi Blue Ochsenknecht als Judas vor die Kamera und singt. Vorsichtig formuliert: Seiner Schwester Cheyenne beim Windeln-Shoppen in der Realityserie "Diese Ochsenknechts" zuzusehen, ist wohltuender.
Jimi Blue Ochsenknecht verrät Jesus
Jaenicke gelingt es derweil, das Live-Spektakel so ernst zu moderieren, als würde er eine Predigt halten. Immer wieder wird er an diesem Abend Weisheiten von sich geben, die klingen, als hätten die Autoren sie aus der Instagram-Story einer Sinnfluencerin geklaut: "Unser Leben ist kein Instagramprofil. Jeder von uns hat sein Kreuz zu tragen."
Auf einige Menschen in Kassel trifft das im wahrsten Sinne des Wortes zu. Ein paar von ihnen haben sich bereit erklärt, ein sechs Meter langes leuchtendes Kreuz durch die Kasseler Stadt zum Friedrichsplatz zu schleppen. Als wäre das nicht schon Strafe genug, sollen sie der Moderatorin Angela Finger-Erben dabei auch noch dramatische Geschichten aus ihrem Leben erzählen. Kevin aus Kassel berichtet, dass er 2013 zu Jesus gefunden habe. Kreuzträger Peter beichtet eine vergangene Affäre, während seine Wieder-Ehefrau neben ihm das gemeinsame Kind auf dem Arm trägt, das diese Szene bestimmt eines Tages mit unbändiger Begeisterung ansehen wird. Und ein Helmut erzählt, wie sehr es ihn störe, dass Menschen nur noch über andere lachen würden. "Das wollen wir nicht!", sagt Finger-Erben dazu, die sich derzeit als neue Moderatorin von "Schwiegertochter gesucht" etabliert.
Was Gott von alldem hält, hat er im November 2023 gezeigt. Damals stürzte das Dach der Kasseler Elisabethkirche ein – sie steht nur wenige Meter vom Friedrichsplatz entfernt. Es hieß, die Stadt sei knapp einer Katastrophe entgangen. Bricht dort demnächst eine Heuschreckenplage aus, wäre das ein untrügliches Zeichen. In Kassel gibt es kein Entkommen mehr. Sogar der Himmel weint. Viele der Zuschauer vor Ort tragen Regen-Ponchos und schauen andächtig lächelnd aus ihren Kapuzen hervor. Manche schließen die Augen, wenn Ex-No-Angels-Mitglied Nadia Benaissa als Maria zu Jesus Blümel singt. Ihre Botschaft: Liebe ist alles.
Leider rettet das Jesus nicht davor, ans Kreuz genagelt zu werden. Schon beim letzten Abendmahl – Jesus holt dafür extra Pizza und Ciabatta und trifft auf einen essenden Reiner Calmund – ahnt er, was ihm droht. Sein eigener Jünger Jimi Blue verrät ihn an die Polizei. Schlimmer hätte es nicht enden können. Es ist tragisch genug, von einem Freund verraten zu werden, aber wegen Jimi Blue Ochsenknecht sterben zu müssen, ist noch mal ein anderes Level. Zu allem Überfluss küsst Jimi Blue Jesus auf die Wange bevor er ihn der Polizei überlässt, als sei er ein besonders toxischer Exfreund. Wenigstens muss Falco die Jimi Blue feat. Jesus Version von "Out of the Dark" nicht mehr miterleben. Die Polizisten legen Jesus Blümel Handschellen an und liefern ihn Pontius Pilatus alias Schauspieler Francis Fulton-Smith aus. Also alles fast wie in der Bibel, nur mit mehr Popsongs aus dem NDR2-Nachmittagsprogramm zwischendurch.
Zum Abschluss performt Jesus auf dem Shoppingcenter
Als das Kreuz den Friedrichsplatz erreicht, halten sich manche Kasseler ergriffen an den Händen. Sie hätten die Chance Jesus Blümel zu retten, aber wahrscheinlich haben sie genug von dem Regen, der deutschen Kitsch-Musik und dem Mantra, alles mit Liebe zu betrachten, also rufen sie stattdessen: "Kreuzige ihn!"
Diese Inszenierung ist so unangenehm, es fehlt nur noch, dass Dieter Bohlen als Gott im Himmel zu Jesus Blümel spricht und Sätze sagt wie: "Ich höre lieber eine Ziege in einen Blecheimer pinkeln als weiterhin deinen Gesang."
Wobei Blümel immerhin singen kann, aber er ist ja auch Jesus. Nicht mal, dass Maria Nenas Song "Wunder gescheh‘n" performt, kann ihn davon abhalten, wieder aufzuerstehen: auf dem Dach des Shoppingcenters Königs-Galerie. Welch schöneren Ort für die Auferstehung Jesu Christi könnte es geben. Dort thront er also, Gottes Sohn, und singt "Bedingungslos" von Sarah Connor.
Eines steht fest: Nach diesem Spektakel wird Jesus sich das mit der nächsten Auferstehung dreimal überlegen.
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