"Da steht ja der Trümmer", "Meine Güte ist das ein Koloss" oder "Das ist ja mal eine ordentliche Wanne" – ja, der Kia EV9 ist eine beeindruckende Erscheinung. Kein Wunder, denn der Wagen ist 5,01 Meter lang, 1,98 Meter breit und 1,78 Meter hoch. Das Gewicht beträgt 2,6 Tonnen, die zulässige Gesamtmasse laut Schein 3190 Kilogramm. Und dennoch: Im stern-Test erwies sich der Kia EV9 als leichtfüßiges Elektroauto mit überraschend leichtem Handling und ausreichend Power, um schnell genug vom Fleck zu kommen. Auch abseits der Straßen machte der EV9 mächtig Spaß – dazu später mehr.
Das Design des Kia EV9 ist auf den ersten Blick zweckmäßig und recht kantig. Ein echter "Schrank" eben. Doch kleine Feinheiten unterbrechen die Fassade gekonnt, sodass der Wagen nicht einfach aussieht wie ein riesiger Blechklumpen. Dabei spielen besonders die Lichter eine Rolle – denn die LED-Beleuchtung ist nicht nur für die Sicht des Fahrers ein echter Gewinn, sondern auch für die Gesamtoptik. Die Zierelemente, Lufteinlässe, Radhäuser und die verdunkelten Scheiben lassen das Elektro-SUV dynamisch wirken. Einzig das Heck ist durch seine fast flache Form etwas kastenförmig geraten und im Handel gibt es sicherlich auch schönere Felgen für das Fahrzeug, das ab Werk auf riesigen 21-Zoll-Leichtmetallfelgen mit Radzierblenden steht. Montiert sind Reifen mit den Maßen 285/45R21, welche beim Händler ums Eck ab etwa 200 Euro pro Stück erhältlich sind.
Viele Extras ab Werk, drei Ausstattungslinien
Beim Testfahrzeug handelt es sich um einen Kia EV9 in der GT-Line mit Allradantrieb in "Ocean Blue Metallic" mit dem Sitz-Paket "Swivel". Die GT-Line ist die zweitteuerste Ausstattungsvariante und zeichnet sich aus durch Extras wie jene erwähnten 21-Zoll-Leichtmetallfelgen, den adaptiven Dual-LED-Scheinwerfer, einen aktiven Totwinkel-Assistenten mit Monitoranzeige, digitale Innenrückspiegel, elektrisch einstellbare Fahrer- und Beifahrersitze, einen Fahrersitz mit Massage-Funktion, ein Head-up-Display, den Remote-Parkassistenten, eine Rundumsichtkamera und vieles mehr. Im Konfigurator ließen sich überdies beispielsweise noch ein Panoramadach oder digitale Außenspiegel hinzufügen. Der Preis des Fahrzeugs, so wie es auf den Bildern zu sehen ist: 83.370 Euro. Erhältlich ist der Kia EV9 als 6- oder 7-Sitzer.
In der GT-Line sind Allrad und zwei Elektromotoren Standard. Der Akku misst bei allen Fahrzeugen 99,8 Kilowattstunden. Die Leistung der Allrad-Variante beträgt 283 Kilowatt, also 385 PS. Im Test erwies sich das als vollkommen ausreichend für das schwere Fahrzeug. Im Sport-Modus sprintet der Kia EV9 den meisten Autos davon, selbst offroad am Autostrand der dänischen Wattenmeerinsel Rømø machte der Wagen neben "echten Geländewagen" eine gute Figur, das Durchfahren knöcheltiefer Priele war kein Problem. Das hat er auch den unterschiedlichen Fahr- und Terrain-Modi zu verdanken. Je nach Leistungsbedarf kann man zwischen Eco-, Normal- und Sport-Betrieb wählen, zusätzlich gibt es für den Kia EV9 noch Geländeoptionen für Schnee, Matsch und Sand, die jeweils Antriebssteuerung, Drehmomentverteilung und das Fahrwerk anpassen. Möchte man mal schneller fahren, kann man bis rund 200 km/h durchtreten – dann ist Schluss.
Aber: Der Verbrauch ist bei sportlicher Fahrweise sehr hoch, über 30 Kilowatt kommt man so sehr leicht. Für die Reichweite ist das natürlich Gift. Generell sind Offroadtouren, Sprints oder schnelle Fahrten nicht die Paradedisziplinen der Familienkutsche. Das Raumwunder lässt sich am besten ganz entspannt im Eco-Modus bewegen. Das Fahrwerk ist darauf bestens ausgelegt, denn der Kia EV9 bügelt Schlaglöcher oder auch Pflasterstein mit Leichtigkeit aus. Dabei knarzt es nicht im Gebälk und man gleitet quasi butterweich dahin.
Auf engen Straßen muss man mit dem Kia EV9 allerdings umgehen können. Der Wagen hat keine Hinterradlenkung und damit einen etwas größeren Wendekreis. Alte Parkhäuser oder sehr enge Zufahrten könnten damit zur Herausforderungen werden, auch wenn der EV9 dank seiner zahlreichen Außensensoren und Kameras beim Rangieren nach Kräften unterstützt.
Für ein Elektroauto recht hoher Verbrauch bei kaltem Wetter
Im Test, der aus langen Autobahnfahren und innerstädtischem Verkehr bestand, kam der Wagen auf Verbrauchswerte zwischen 26 und 29 Kilowattstunden auf 100 Kilometer. Dazu sei gesagt, dass der Kia EV9 wetterbedingt ausschließlich bei Regen und Temperaturen unter 10 Grad Celsius bewegt wurde, also auch entsprechend viel heizen musste, was sich sehr negativ auf den Verbrauch auswirkt. Die Reichweite mit vollem Akku betrug so etwa 380 Kilometer. Wie das mit einem Gespann aussieht, konnte mangels Anhängerkupplung am Testwagen nicht ermittelt werden. Laut Fahrzeugschein darf der Kia EV9 mit Allrad 2,5 Tonnen gebremst und 750 Kilogramm ungebremst ziehen.
Die gemessene Fahrleistung ist von der offiziellen WLTP-Reichweite, die zwischen 505 und 512 Kilometern liegt, doch recht weit entfernt, erklärt sich aber durch die schlechten Wetterbedingungen und das viele Heizen. Was im Test äußerst positiv auffiel, waren die Leistungen an der Ladesäule. An einer AC-Säule kann man das Fahrzeug aufgrund seiner Limitierung auf 10,9 Kilowatt zwar vergessen, an Gleichstrom-Kabeln macht das Aufladen dafür aber umso mehr Freude. Das hat der Kia EV9 auch seiner Ladearchitektur zu verdanken. Durch die 800-Volt-Technologie versteht sich das Fahrzeug bestens mit Schnelladern und zog im Test laut App bis zu 193 Kilowatt durch die Leitung. Und das in einem durchaus großzügigen Ladefenster – erst ab 80 Prozent drosselte der Wagen auf 49 Kilowatt und schaufelte so etwas gemächlicher die Zellen voll. In konkreter Wartezeit bedeutet das: Von 9 auf 100 Prozent verbrachte der Kia EV9 gerade einmal 55 Minuten an einem EnBW Hypercharger mit entsprechender Leistung. Wer immer mal wieder eine Pause an einem Schnelllader einlegt, muss also nie lange warten, um die Fahrt fortsetzen zu können. Ein Kaffee reicht meist schon.
Es piept!
Dass man eine kurze Pause einlegen sollte, will der Wagen einem ohnehin ständig weismachen. Denn die Assistenzsysteme des Kia EV9 sind äußerst penetrant – und nicht alle lassen sich abschalten. Und wenn, dann sogar nur für die jeweilige Fahrt. Da wäre zum einen die Fahreraufmerksamkeitswarnung. Wenn aktiv, schaut sie auf die Blickrichtung des Fahrers und piept schon bei wenigen Sekunden Gespräch mit dem Beifahrer, wenn man diesen dabei anschaut. Oder die Überprüfung der Geschwindigkeit. Wer innerorts 52 km/h fährt, wird angepiept. Beide Systeme kann man über das Menü des Fahrzeugs abschalten – ist die Fahrt beendet, reaktivieren sie sich aber wieder und warten mit ihrem Gebimmel auf die nächste Tour.
Richtig störend und nicht wirklich gut ist die Müdigkeitserkennung des Fahrzeugs. Mal piept sie nach fünf Minuten Fahrt, dann bleibt sie aber nach vier Stunden Autobahn-Gerolle stumm, obwohl mal drei Mal sehr deutlich gähnt. Doch wenn sie sich meldet, dann mit einem wilden Getöse, dass sich teilweise über mehr als 20 Sekunden zieht. Ein kurzer Hinweis hätte gereicht – zumal man es nicht abschalten kann, ergo auf jeden Fall aus dem angeblichen Dämmerzustand rausgenervt wird. Es mag sein, dass viele dieser Systeme gesetzliche Pflicht sind, aber die Umsetzung dürfte ruhig etwas mehr im Sinne des Fahrers sein. Lässt man sämtliche Assistenten laufen, kann man sich jedenfalls auf eine Kakophonie des Grauens einstellen.
Dabei können die Boxen des Autos so viel schönere Dinge, etwa Musik sehr voluminös und klangstark wiedergeben. Oder als Gegensprechanlage für die hinteren Sitzbänke fungieren, wenn man zum Beispiel zankende Kinder mit Nachdruck in die Schranken weisen will. Vieles am Kia EV9 ist sehr durchdacht und macht den Wagen definitiv langstreckentauglich.
Ein gemütlicher Cruiser
Die Sitze gehören dazu: In der GT-Line sind sämtliche Sessel (das wäre eine angemessenere Bezeichnung als Sitze) urbequem und laden entweder zu entspannten Fahrten oder kleinen Nickerchen auf den hinteren Reihen ein. Die Laufruhe des Fahrzeugs hilft dabei ebenfalls.
Was das Infotainment betrifft, hat Kia gute Arbeit geleistet und bietet mit dem eigenen Navi bereits eine sehr gute Lösung um von A nach B zu kommen. Die Bildschirme sind sehr gut ablesbar und leicht zu reinigen. Deutlich mehr Konnektivität bietet natürlich Apple Car Play oder Android Auto, beides ist serienmäßig an Bord, allerdings leider nur per Kabel. Wireless Carplay hätte, auch weil es in der Mittelkonsole eine kabellose Ladeschale für Smartphone gibt, ruhig sein dürfen.
Ein weiteres cleveres Feature des Kia EV9 ist die sogenannte "Vehicle To Load"-Funktion. Mit einem Adapter für den Ladeanschluss kann man eine Steckdose montieren, mit der man Gegenstände wie Laptops und Campingausrüstung mit einer maximalen Leistung von 3,8 kW aufladen kann. Sollte die hauseigene Infrastruktur es unterstützen, könnte man damit sogar Strom ins Netz einspeisen.
Fazit: Kia EV9
Der Kia EV9 macht genau das, was er soll: Der Wagen stellt das wohl perfekte Auto für Familien dar, die sich keinen Bulli oder Kleintransporter in die Garage stellen wollen, aber auf das üppige Platzangebot angewiesen sind. In seinem Feld ist der Kia preislich attraktiv und stellt mit Einstiegspreisen von 72.490 Euro eine echte Konkurrenz für vergleichbar große Fahrzeuge dar.
Apropos groß: Man sollte den Kia EV9 unbedingt im eigenen Umfeld ausprobieren, um mögliche Engpässe vor dem Kauf zu bemerkten. Das SUV kommt nicht in jede Parklücke, passt nicht in jedes Parkhaus und wird bei manchen Zufahrten an seine Grenzen stoßen. Das sollte man wissen, ist aber nicht dem Fahrzeug geschuldet, sondern schlicht der Größe solcher Kaliber. Eine Hinterradlenkung hätte wohl geholfen, ist aber bei Autos in der Preisklasse eigentlich nicht zu finden.
Für sein Geld bekommt man ein wirklich tolles Elektroauto mit viel Reichweite und tollen Ladeleistungen, sodass man nicht überall ewig rumstehen muss. Erholen sollte man sich ab und an ohnehin, da einem sonst die Müdigkeitserkennung irgendwann sekundenlang ins Gesicht piept. Könnte man die kleinen nervigen "Fahrhilfen" abschalten, wäre das ein echter Gewinn.
Insgesamt sollte man, sofern man ein solches Auto ohnehin sucht, eine Probefahrt des Kia EV9 einplanen.