Kommentar Alles Ansichtssache mit dem Tempo

  • von Harald Kaiser
Im Krieg um Tempolimit, Rasertum und CO2 helfen harte Tatsachen nicht weiter. Datengrundlagen gibt es zu jedem Standpunkt, auf die Interpretation kommt es an. Wie sich Fakten zur Straßenlage für oder gegen ein Tempolimit verwenden lassen.

Da ist es schon wieder, das Gespenst Tempolimit, das in letzter Zeit mit Vollgas durch Auto-Deutschland geistert. EU-Kommissionsprä-sident José Manuel Barroso hat sich jüngst mit der Bemerkung hervorgetan, dass Autohersteller Strafe dafür zahlen müssen, wenn sie den Grenzwert von 120 Gramm Kohlendioxid pro Kilometer nicht einhalten, der ab 2012 gelten soll. Damit meint er vor allem die deutsche Auto-Industrie. Denn er fügte an, dass es ja klar sei, dass Autos, die an eine Höchstgeschwindigkeit gebunden sind, weniger Treibhausgase ausstoßen.

Hätte der Portugiese doch den Mund gehalten, denn mit dem Gesagten hat er sich fürchterlich verbremst. Gehen ihm keine Referenten zur Hand, die ihm aufschreiben, dass in Deutschland mehr als 98,5 Prozent aller Straßen längst limitiert sind? Oder geht es nur darum, Aufsehen zu erzeugen und den Medien Futter zu geben? Wenn ja, dann passt hier ein schöner Satz unserer schwäbischen Landsleute: "Hauptsach’, es is was g’schwätzt."

Sektenkrieg um Geschwindigkeiten

Das Merkwürdige ist inzwischen, dass es auf Seiten der Befürworter wie Gegner einer Tempobremse nicht mehr um Wahrheiten geht, sondern um die Interpretation von Fakten. Wobei man sagen muss, dass beide Lager offenbar nicht merken, dass sie inzwischen wie Angehörige einer Sekte wirken, religiös verblendet argumentieren, gestützt auf Zahlen, Annahmen, mehr oder minder wissenschaftliche Studien und dem eigenen politischen Standpunkt. Das alles zusammen ergibt Glaubensbekenntnisse, die der eine besser vortragen kann als der andere. Oft reicht es deshalb in Talkshows, mit besorgter Miene und Betroffenheit im Ton von Kohlendioxideinsparungen zu reden und eine deutlich geringere Todesrate in Aussicht zu stellen, käme ein Tempolimit, um die Mehrheit der Zuschauer auf seine Seite zu ziehen. Denn wer gerade bei der Todeszahl auch nur ansatzweise dagegen zu halten versucht, der steht mit Vollgas in der Ecke der Zyniker und bekommt das Etikett angeheftet, der Rettung von Leben gleichgültig gegenüber zu stehen.

Zahlen sind keine Gewissheiten

Es ist wirklich vertrackt mit den Einzelheiten. Zum Beispiel die Zahl des "freien" Teils des gesamten Straßennetzes. Die Gegner sagen, das sind ja nur noch etwa 1,5 Prozent von 463000 Kilometer deutschen Straßen. Diese limitlose Zone müsse man erhalten. Genau umgekehrt argumentieren die Befürworter. Sie führen ins Feld, wenn es nur noch so wenige Streckenteile sind, dann könne man die ja schließlich auch begrenzen.

Oder die Durchschnittsgeschwindigkeit. Angeblich beträgt die 130 km/h. Die Gegner des Limits sagen, wir brauchen keine starre Begrenzung, die Leute fahren ja ohnehin nicht schneller. Die Befürworter meinen dagegen: Klasse, dann sind die Autofahrer ja daran gewöhnt, es spricht also nichts dagegen, eine Höchstgeschwindigkeit zu verordnen. Oder das Kohlendioxid (Co2). Die Antifraktion führt ins Feld, dass die zwei bis drei Millionen Tonnen Co2, die durch eine Geschwindigkeitsbegrenzung angeblich gespart werden könnten, in der Co2-Bilanz insgesamt keinen Fingerhut füllen würden. Das weiß auch die andere Seite, sie sagt aber, dass man überall dort Treibhausgas sparen müsse, wo man es sparen könne.

Statistik hilft nicht immer

Oder die heikle Sache mit den Todesopfern. Beide Lager wissen, dass der geringste Teils des Straßen-Blutzolls auf den Autobahnen zu beklagen ist. Doch schon die Verwendung des Wörtchens "nur" ist kritisch. Machen wir es ganz sachlich: 2006 gab es in Deutschland 5091 Verkehrstote, davon 645 auf der Autobahn. Das sind 13 Prozent. Spricht die relativ geringe Zahl der Autobahntoten nun gegen ein Tempolimit? Oder sticht das andere As, das jedes gerettete Leben zählt? Emotional ist die Antwort einfach. Aber sachlich?

Es darf nicht verschwiegen werden, dass gut die Hälfte der Autobahntoten (genau 331) als Folge nicht "angepasster Geschwindigkeit" gelten. So sagt es das Statistische Bundesamt. Jedoch Zahlen oder Fakten, bei welchem Tempo die Menschen verunglückten, gibt es nicht. Die Statistik-Behörde betont dazu ausdrücklich, dass "die Unfallursachen von den aufnehmenden Polizeibeamten entsprechend ihrer Einschätzung in das Erhebungspapier eingetragen werden". Doch auf dem standardisierten Unfallmeldebogen gibt es kein Feld mit einer Tempo-Einschätzung, das der Beamte ankreuzen könnte. So bleibt nur eine Erklärung: Ist der Unfall mit tödlichem Ausgang auf einem freien Streckenteil passiert, wird wohl "nicht angepasste Geschwindigkeit" als Ursache vermutet.

Such man die Unfallschwerpunkte, dann ist die Lage klar: Auf den Bundes- und Landstraßen wie auch innerhalb geschlossener Ortschaften kracht es weitaus am meisten. 2006 passierten 2,2 Millionen Autounfälle, davon 327984 mit Personenschäden. Davon wiederum 20434 (sechs Prozent) auf Autobahnen. Aber 94 Prozent auf anderen Straßen.

Wer rast wann?

Es stellt sich also die Frage: Ist ein Raser, wer in der Stadt 70 statt 50 km/h und wer auf der Landstraße 100 statt 80 fährt? Oder nur jener, der mit 200 über die Autobahn brettert? Obwohl die Antworten auf der Hand liegen, ist es in der Wahrnehmung vieler so, dass die Autobahn automatisch gleichbedeutend ist mit hohem Tempo und damit einer hohen Gefährdung. Da mischen sich also Fakten mit Wahrnehmungen und Ängsten, verdichtet zu Glaubensbekenntnissen.

Zum Beispiel zu jenem, dass ein Tempolimit das Fahren angenehmer mache. Keine Drängler mehr, keine Raser, alles relativ entspannt. Ein womöglich naiver Glaube. Denn wer sagt denn, dass die Einheitsgeschwindigkeit nicht irgendwann einschläfernd wirkt oder die Fahrer dazu veranlasst, dichter aufzufahren? Was am Ende womöglich die erhoffte Senkung des Unfallrisikos ins Gegenteil verkehrt.

Kann aber auch sein, dass es bei dem Hickhack um etwas ganz anderes geht. Etwa um Sozialneid auf Mehr-PS? Um Trabi-Ideologie, dass jedermann auch auf den Straßen gleich sei? Gut möglich, dass die Limit-Befürworter im Mantel der Co2-Reduktion agieren und eigentlich die Gleichmacherei wollen.

Wahrheiten im Angebot

Wahrheiten gibt es zwar ein paar, aber die nutzt jeder nach Gusto. Auch die Autoindustrie, die mit dem Hammer der Arbeitsplätze droht, wenn das Limit kommen sollte. Denn dann, so die Argumentation, dann brauche man keine technisch aufwendigen Autos mehr zu konstruieren, was wiederum zwangsläufig dazu führe, dass die hoch spezialisierten Ingenieure arbeitslos würden.

Ergo: Die Lage ist verfahren. Längst hat die Diskussion religiösen Charakter mit Eiferern auf beiden Seiten. Einen Königsweg aus dem Glaubensdilemma gibt es nicht. Vermutlich werden wir das Limit wohl ausprobieren müssen.