Die Nacht war ätzend, ich fühle mich wie gerädert. Mein Smartphone liefert zu meinem Gefühl Zahlen: 6 Stunden und 27 Minuten lag ich im Bett, hatte 1 Stunde und 22 Minuten Tiefschlaf, 4 Stunden und 37 Minuten leichten Schlaf und war 28 Minuten wach. Da poppt eine Nachricht meines stern.de-Kollegen Christoph Fröhlich auf: "Du musst dich fühlen wie gerädert." Wir wohnen weder in einer WG, noch haben wir gemeinsam im Büro übernachtet. Sein Smartphone hat ihm mein Schlafdefizit verraten. Wir unternehmen gemeinsam einen Selbstversuch in Sachen Selbstvermessung.
"Quantified Self" nennt die internationale Selbstvermesser-Szene ihr Hobby, das sich aus einer kleinen Horde Datenbesessener in wenigen Jahren zum Mainstream entwickelt hat. Quantified Self kann alles umfassen, was im eigenen Leben zählbar ist. Der Mathematiker Stephen Wolfram beispielsweise hat sein eigenes Mail-Aufkommen seit 1989 exzessiv ausgewertet. Und der New Yorker Künstler Frederico Zannier verkauft gerade sieben Gigabyte an persönlichen Informationen über die Crowdfunding Plattform Kickstarter. Das sind Extremfälle. Otto Normalvermesser bezieht sich vor allem auf seinen Körper und kann inzwischen auf eine breite Auswahl an technischen Helferlein zurückgreifen. Smartphone-Apps, intelligente Uhren, Sportschuhe mit Schrittzählern, Tracker-Armbänder (siehe Fotostrecke) - und das sind nur die Fitnessprodukte. Technik zur Gesundheitsüberwachung gibt es außerdem. "Noch vor zehn Jahren hätten wir diese Art der Beschäftigung mit Zahlen und Messen als zwanghaft diagnostiziert, heute ist es ein gesellschaftlicher Trend", sagt die Psychologin Janeta Kapitanova in der ZDF-Sendung "Pixelmacher". Auch Kollege Fröhlich und ich fragen uns: Was verrät die Technik über uns?
Datensammler am Arm
Antworten soll das Armband "Up" des US-Herstellers Jawbone liefern, das 129 Euro kostet. Die erste Version des "Up" war 2012 gefloppt, weil sie nicht so wasserdicht war wie geplant. Jawbone hat das High-Tech-Band noch einmal neu gebaut. Es hielt auch nach zehn Wochen im Test Schweiß und Duschwasser problemlos stand. Wassersport ist laut Hersteller allerdings zu viel des Nassen, das Up könnte dabei aber auch nur wenig zur Selbstvermessung beitragen. Denn im Inneren des sehr angenehm zu tragenden Kunststoffbandes werkelt ein Bewegungssensor, der nicht viel mehr kann, als zwei Dinge zu messen: Schritte und Schlaf. Außerdem steckt ein Vibrationsmotor im Up, der dem Träger Feedback gibt. Einziges Bedienelement ist eine Taste, mit der man zwischen Schlaf- und Wachmodus umschaltet. Als Akkulaufzeit gibt der Hersteller zehn Tage an. Im Test waren es jedes Mal nur neun Tage, was aber völlig ausreichend ist.
Um die Daten vom Armband auf das Smartphone zu übertragen, setzt Jawbone bewusst auf einfache Technik: einen Klinkenstecker, der in den Kopfhörereingang des Telefons passt. Die Datenübertragung dauert wenige Sekunden und funktioniert tadellos. Echtzeitdaten liefert das Up natürlich nicht. Geschützt wird der Stecker durch eine kleine Kappe, die Kollege Fröhlich mit den Worten kommentierte: "Die verliere ich bestimmt innerhalb von vier Tagen". Er brauchte drei. Ein kleines Befestigungsbändchen oder ein Schließmechanismus wäre hilfreich.
Unverzichtbares Gegenstück zum Up ist eine App auf dem Smartphone, die den ganzen gespeicherten Datensalat auswertet und hübsch macht. Inzwischen verbindet sich der Fitnesstracker mit mehr als zehn Programmen verschiedener Entwickler. Wir beschränken uns auf die Up-App des Herstellers. Die sieht hübsch aus, ist einfach zu bedienen - und leider in Teilen schlecht oder gar nicht übersetzt. Die App kann mich auch mit anderen Up-Nutzern zu einem Team verbinden, zum Beispiel mit dem Kollegen Fröhlich.
Lauf! Lauf!
Jetzt aber los: Das Armband zählt unsere Schritte, überwacht unseren Schlaf, und in der App können wir außerdem noch protokollieren, was wir essen. Aus den Werten bastelt die App bunte Statistiken. So lerne ich, dass ich an einem durchschnittlichen Arbeitstag im Büro plus Kind-zur-Kita-Bringen und U-Bahn-Fahren mehr als 8000 Schritte zurücklege. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt pro Tag 10.000 Schritte für ein gesundes Leben. Wenn ich die mal schaffe, belohnt mich die App mit einer strahlenden Prozentzahl! Schön! Auch ganz einfache Belohnungen funktionieren manchmal. Kollege Fröhlich kommt ohne Kind, aber mit abendlichem Ausgehen übrigens auf ähnliche Werte.

Schlaf, wo bist du nur?
Gänzlich unterschiedlich sehen unsere Schlafstatistiken aus, die eingangs erwähnte Anekdote ist nur ein Beispiel von vielen. Wenn meine 18 Monate alte Tochter sich für einen Nachtfalter und frühen Vogel zugleich hält, legt nicht nur die bleierne Müdigkeit am Morgen davon Zeugnis ab. Das Armband misst nachts meine Körperbewegungen und errechnet daraus Tiefschlafphasen sowie Abschnitte mit leichtem Schlaf oder Wachzustände. Die Statistik einer typischen schlechten Nacht sieht so aus: Einzelne dünne Spitzen kennzeichnen lächerlich kurze Tiefschlafphasen, und das Plateau des leichten Schlaf wird mehrmals aufgerissen von wachen Zuständen - in denen die Tochter Aufmerksamkeit forderte. Wenn dann Stunden nach dem viel zu frühen Aufstehen vom Kollegen Fröhlich eine Statistik mit unfassbaren elf Stunden und fünf Minuten Schlaf eintrifft, ist dieser Sonntag gelaufen. Der Vergleich mit anderen soll motivieren? Nicht, wenn diese unerreichbar in Führung liegen. Und von der App ist auch kein virtuelles Kopftätscheln zu erwarten: Ich habe als Ziel acht Stunden Schlaf eingestellt.
Vibrationen für alle
Weil er Schlaf im Übermaß bekommt, muss Kollege Fröhlich die Weckfunktionen des Up testen: Tagsüber kann das Bändchen ein kurzes Powernapping überwachen oder den Träger alle 15 Minuten daran erinnern, dass er seinen Hintern mal vom Bürostuhl erheben und herumlaufen soll. Frühmorgens meldet sich das Up per Vibrationsalarm, wenn man sich gerade in einer leichten Schlafphase bis zu 30 Minuten vor dem festgelegten Weckzeitpunkt befindet. So soll das Aufwachen wesentlich angenehmer ablaufen, als wenn ein pünktlicher Wecker während des Tiefschlafs Krawall macht. Das alles funktioniert - allerdings ist es nicht halb so diskret, wie der Hersteller verspricht. Die Freundin von Kollege Fröhlich wird jedes Mal ohne Rücksicht auf ihre Schlafphase mitgeweckt, weil das Armband so stark vibriert, dass die ganze Matratze wackelt.
Ein Schein von Genauigkeit
Die zahlreichen Statistiken und Werte sind interessant, beschreiben das eigene Leben aber mit einer nur scheinbaren Präzision, die sich der Realität höchstens annähert. Das händische Eingeben der Mahlzeiten zum Beispiel ist nicht nur mühsam, sondern sinnlos. Die Nährwertangeben in der Datenbank der App sind nur für abgepackte Artikel korrekt. Sobald man selbst kocht oder Essen geht, kann man nur noch raten. Sich auf dieser Datenbasis von der App wegen seines Cholesterinkonsums rügen zu lassen, bringt gar nichts. Wir haben nach zwei Wochen aufgegeben, Mahlzeiten zu protokollieren.

Ebenso ungenau wird es, wenn man sportliche Aktivitäten nachträgt. Weil das Armband nur die Bewegungen der Hand aufzeichnen kann - die zum Beispiel beim Radfahren oder Standardtanz fehlen -, wird die sportliche Leistung ausschließlich aus der Zeit und empirischen Daten hochgerechnet. Die Abweichung von anderen Sportapps wie Runtastic, die mit GPS-Daten arbeiten, ist teilweise groß. Kritik gibt es auch an der Genauigkeit der Schlafmessung: Der "Spiegel" hat die Werte des Up in einem klinischen Schlaflabor überprüfen lassen. Das Armband maß eine Stunde zu viel leichten Schlaf, ignorierte aber die meisten kurzen Wachzustände. "Untauglich" lautete das Urteil des Schlafmediziners über das Jawbone Up.
Das Leben der Anderen
Ich kenne jetzt die Schwächen des Fitnesstrackers, aber mir reicht seine Leistung aus. Ich habe keine konkreten Trainingsziele und will auch keiner schweren Schlafstörung auf die Schliche kommen. Mir reicht der grobe Überblick darüber, wie viel ich mich bewege und wann ich zu faul war. Und dass ich manchmal einfach früher ins Bett gehen sollte, ist zwar keine besonders originelle Erkenntnis, aber mir hilft es durchaus, wenn mir mein Smartphone das auch noch einmal sagt.
Etwas anderes verstört mich allerdings: Von den Daten der anderen Teammitglieder geht bisweilen eine ungeheure Faszination aus. Ein Beispiel: In unserem Team ist auch ein Bekannter, der trotz zweier kleiner Kinder regelmäßig unfassbar lange und tief schläft. Ich ertappe mich dabei, mehr über sein Leben nachzudenken als über mein eigenes. Wie macht der das? Ist die ganze Familie wirklich so entspannt? Oder muss nur seine Frau nachts immer raus? Lebt er vielleicht gar nicht mehr zu Hause? Und wieso macht er pro Tag nur so wenige Schritte? Muss er vielleicht zurzeit im Büro übernachten? Stopp. So viel sollte ich nicht wissen über das Leben der Anderen, kann aber nicht aufhören herumzuspinnen. Ich stelle mir vor, wie ein Kollege sich krank meldet. Seine Up-Daten zeigen mir gleichzeitig, dass er in der vergangenen Nacht zehntausend Schritte gemacht, zehn Bier getrunken und erst um neun Uhr morgens den Weg ins Bett gefunden hat. Mir reicht's. Das Armband kann bleiben, dem Team gegenüber erkläre ich meinen Rücktritt.
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