Kids und Computer Kinder an die Maus!

  • von Ulf Schönert
Zehn Jahre wird die Initiative "Schulen ans Netz" dieser Tage alt - und inzwischen ist klar: Kids und Computer sind in Kindergärten und Schulen ein perfektes Team. Der stern hat sich die modernen Lernwelten angesehen.

Karim Grün ist neuerdings Buchstabendetektiv. "Welcher Buchstabe steht am Anfang von Nase?", fragt der Computer den Sechsjährigen. Karim klickt auf das "N" und zieht es mit der Maus ins Lösungsfeld. "Klasse", freut sich das Äffchen auf dem Monitor und klatscht in die Hände. "Klasse", freut sich auch Karim. Gleich ist das Essen fertig in der Kindertagesstätte in Berlin-Wedding, es riecht nach Fisch und Reis, zum Nachtisch gibt es "Brauner Bär"-Eis. Doch noch sitzen die Kleinen um Karim und den PC und geben Tipps.

Der Computer steht neben Lego und Brio-Eisenbahn, in einer Ecke klickern Kinder mit Bauklötzen. "An manchen Tagen streiten sich die Kinder um den Rechner, an anderen steht er herum", sagt Erzieherin Bärbel Mende. "So wie das bei anderem Spielzeug auch ist." Spezielle Computerstunden gibt es nicht. "Aber je früher sie an den PC herangeführt werden, desto leichter haben sie es später. Davon bin ich überzeugt."

Und nicht nur Frau Mende. Immer mehr Kindergärten und Schulen setzen Computer als Lehrinstrument ein. Für viele Kinder ist der PC im Klassenraum ganz normaler Alltag geworden: Kaum zu glauben, dass die Initiative "Schulen ans Netz" in diesen Tagen erst ihren zehnten Geburtstag feiert. Als 1996 die ersten Schulen mit 486er-Rechnern und 56k-Modems versorgt wurden, leisteten nicht wenige Pädagogen sogar Widerstand.

Auswirkungen des Pisa-Schocks

Doch spätestens nach den miesen Noten in der Pisa-Studie 2003 wurden die Anstrengungen intensiviert - hatte Pisa doch gezeigt, dass Kinder mit Computerzugang in vielen Fächern erheblich besser waren als ihre Mitschüler ohne PC. Und zwar bis zu drei Schuljahre besser.

Trotzdem liegt Deutschland bei der Heranführung von Schülern an den Computer im internationalen Vergleich noch immer hinten: Nach einer OECD-Studie nutzen nur 23 Prozent aller Kinder in deutschen Schulen regelmäßig einen PC - der OECD-Durchschnitt ist fast doppelt so hoch. In Deutschland müssen sich 17 Schüler einen Rechner teilen und 43 Kinder einen Internetzugang - doppelt so viele wie im OECD-Durchschnitt. Anders zu Hause: Im Kinderzimmer steht der PC fast überall - in mehr als 80 Prozent aller Haushalte, wie die Studie "Kinder + Medien, Computer + Internet" besagt. Jedes fünfte Kind unter 13 Jahren sitzt täglich davor. Diese Kinder spielen und lernen ganz selbstverständlich mit dem PC. Und sie möchten diese Fertigkeit auch in der Schule nutzen: nicht nur Frontalunterricht vom Lehrer - sondern im Unterricht auch fürs Leben lernen.

Karim und die Kita-Bande büffeln im Kindergarten nicht nur spielerisch A, B und C. Sie lernen die Grundlagen für ihre Zukunft: die abstrakten Symbole auf dem Monitor zum Beispiel. Das süße Äffchen, auf das Karim heute klickt, macht ihn fit für das Icon, mit dem er vielleicht später im Beruf Euro im Internet verschicken wird. Moderne Firmen brauchen solche Leute. Umgekehrt formuliert: Mitarbeiter, die diese Zeichen und Codes nicht lesen können, werden in Zukunft kaum benötigt. 25 Minuten darf Karim an den Rechner, dann ist ein anderes Kind dran. Er lernt, dass das 25 Minuten sind, in denen sich das Gerät ganz ihm widmet und ihn persönlich fördert - ohne Ungeduld oder Vorurteile: "Am PC ist es nicht schlimm, Fehler zu machen", sagt Bärbel Mende, "denn der verzeiht."

Die Software passt sich an

Und mehr noch: Der PC, oder besser gesagt die Lernsoftware darauf, "kennt" alle Kinder hier. Sie weiß, wie oft Karim, Adem, Beysa oder Andreas bereits gespielt haben, sie merkt sich, wie gut sie sind und macht etwas, wofür die Erzieherinnen kaum Zeit haben: Sie stellt sich auf das Niveau jedes Kindes ein. Genau das ist eine der Waffen gegen Pisa-Frust: Der Rechner führt Spaß und Spiel zusammen. "Wir trennen leider mit Beginn der Schule, was noch im Kindergarten fest zusammengehört", sagt Peter Vorderer, Medienpsychologe an der Annenberg School of Communication in Los Angeles, "plötzlich sagen wir: Jetzt wird gelernt - und den Spaß hast du in der Pause. Warum?" Für ihn sind es gerade die oft geschmähten Computerspiele, die unsere Schule verändern werden. "Deren Potenzial liegt fast völlig brach", sagt Vorderer, und er meint damit nicht nur, dass Spiele etwas Freude in den Unterricht bringen könnten. Oder dass sich etwas, womit Kinder sowieso freiwillig und konzentriert Stunden verbringen, doch pädagogisch nutzen lassen müsste. Es geht ihm um das Prinzip: "Ein Grundschullehrer spricht zu 30 Kindern. Er langweilt damit meist die besseren und überfordert die schlechteren Schüler", sagt Vorderer. "Spiele jedoch können sich optimal an das einzelne Kind anpassen: Macht es zu viele Fehler, ist es noch nicht so weit. Dann kann das Spiel simpler werden - oder umgekehrt." Vorderer meint Spiele rund um Grammatik, Mathe und Erdkunde: "Damit kann man jeden Lerninhalt vermitteln und jedes Kind individuell fördern. Das ersetzt natürlich nicht die Lehrkräfte, aber gerade für die ist es eine sehr große Herausforderung."

Einer von ihnen steht gerade am Fenster in seinem Lehrerzimmer und beobachtet, wie Schüler zu früh zum Unterricht erscheinen. Überrascht ist er nicht. "Sie dürfen vor der Schule an unseren Computern spielen", sagt Hartwig Fortkamp, Leiter der Grundschule Edewecht in Friedrichsfehn bei Oldenburg. "Seitdem kommen sie pünktlicher als früher." Viel Eigeninitiative war nötig, die Schule mit Computern und Internet auszurüsten. Den Serverschrank gab es bei Ebay, auf dem Anhänger hat der Hausmeister ihn zur Schule transportiert. Drei Wochen lang haben sie zehn, zwölf Stunden am Tag gearbeitet, bis das System endlich stand. Engagierte Eltern, Computermamas und Computerpapas genannt, beaufsichtigen die Kinder, wenn sie am PC lernen. "Viele Computerprojekte an Schulen laufen eine gewisse Zeit und werden danach nicht weiterverfolgt", sagt Helmut Poppe, Lehrer und Leiter des Arbeitskreises E-Learning beim Bundesverband Digitale Wirtschaft. "Die Rechner stehen außerdem oft in separaten PC-Räumen", ergänzt Wilfried Hendricks, Leiter des Instituts für Bildung in der Informationsgesellschaft. "Der Lehrer muss mit seiner Klasse extra dort hingehen, statt online zu sein, wenn er es will. Er muss sich nach Öffnungszeiten richten statt nach seinem Unterricht."

In Friedrichsfehn muss er das nicht. Dort gibt es überall Internet, ein kleiderschrankgroßer Server und die überall im Haus verteilten Router versorgen jeden Winkel der Schule mit drahtlosem Netz. Die Kinder fertigen Zeichnungen mit einem Malprogramm an und fügen die einzelnen Bilder zu Trickfilmen zusammen. So lernen sie zum Beispiel zu verstehen, wie H2O-Moleküle durch den Wasserkreislauf wandern oder wie das Essen im menschlichen Körper verdaut wird. Wenn im Kunstunterricht Kunstwerke entstehen, werden sie gescannt und ins Netz gestellt. Die Lehrer können die Arbeiten der Schüler über das interne Netz jederzeit einsehen, "und die Eltern freuen sich sehr, wenn sie auf diese Weise ein Stück am Schulalltag teilnehmen können", sagt Schulleiter Fortkamp. "Das läuft hier so gut, weil es selbstverständlich ist. Die Kinder werden vom ersten Tag an mit dem PC groß. Er ist ein Medium von vielen, wie Schreibheft, Schulbuch oder der Overheadprojektor."

"Weg vom trägen Wissen"

Der Computer steht in Schulen wie in Friedrichsfehn nicht auf einem Thron. Kein Lehrer fordert, dass Kinder nur noch vor dem PC sitzen sollen. Aber der Rechner verändert vieles Althergebrachte: den Unterricht selbst und die Rolle des Lehrers. "Wenn der PC gut eingesetzt wird, kommen wir weg vom trägen Wissen, vom Auswendiglernen", sagt Stefan Aufenanger, Erziehungswissenschaftler und Medienpädagoge an der Universität Mainz. "Die Schüler werden sich in Zukunft Wissen viel mehr selbst erarbeiten." Wenn in Fortkamps Schule Viertklässler Hauptstädte, Quadratkilometer und Einwohnerzahl aller Bundesländer ermitteln sollen, liegen auf den Tischen aufgeklappte Schreibhefte neben aufgeklappten Notebooks. Die Kinder surfen zu Google, die Suchmaschine verweist auf das Online-Lexikon Wikipedia, und da stehen alle gesuchten Zahlen sauber aufgelistet - Problem gelöst. Genau darum geht es: "Kinder häufen weniger Wissen an, von dem sie gar nicht wissen, in welchem Zusammenhang sie das mal gebrauchen können", sagt Aufenanger. "So werden sie in allen Fächern besser und selbstständiger."

Lehrer müssen bei dieser Art von Unterricht nicht mehr allwissend vorn am Pult stehen, sie wandeln sich zum Moderator, begleiten die Schüler auf deren Suche nach Wissen - und zeigen ihnen, welche Gefahren es gibt im Netz, wo ethische Grenzen sind und wie man Informationen gewichtet. Nicht alles, was Google auswirft, ist relevant, nicht jeder Eintrag in Wikipedia ist fehlerfrei. Wissen einzuschätzen, das ist die Autorität der Erwachsenen. "Der Lehrer lehrt, wie man am besten lernt", sagt Aufenanger - und wie nebenbei eignen sich die Schüler an, was auch im modernen Büroalltag gebraucht wird: Sie kooperieren in Gruppen, recherchieren, stimmen sich mit dem Banknachbarn ab und präsentieren ihre Ergebnisse gemeinsam.

Und, was nicht zu unterschätzen ist: Die Kinder wollen diese Form von Unterricht, sie wird ihnen nicht aufgezwungen. Das birgt Chancen für alle: für Kinder und für Lehrer. So wie für Christiane Meisenburg, Lehrerin an der Siegerland-Grundschule in Berlin-Spandau. Früher hatte sie keine Ahnung von Computern, seit sie aber weiß, welche Möglichkeiten sie ihr bieten, ist es "eine Leidenschaft". Erdkunde zum Beispiel kann man mit Google Earth besser lernen als mit dem Globus. "Ich komm aus dem Irak", sagt ein Mädchen aus der 6a und zoomt mit der Maus auf ihr Heimatdorf: "Unser Haus liegt ziemlich einsam auf einem Berg." "Mein Papa kommt aus Athen", erzählt ein anderes Mädchen. Sie bewegt die virtuelle Erdkugel. "Hier muss es sein", sagt sie. Ein Schüler sucht seine Heimatstadt in der Türkei, dann alle zusammen ihr Berlin-Spandau. Sie staunen. So groß ist die Welt, so viele Länder. Überall Hausdächer, Hausdächer, Hausdächer. Und die Schüler sind plötzlich ganz nah dran: Unter all diesen Dächern auf dem Schirm wohnen Menschen. Du siehst sie nicht, aber du weißt es, denn eins dieser Dächer ist dein Dach. Du weißt, dass dort Erwachsene leben und Kinder, Kinder wie du. So geht Erdkunde 2006.

Die Siegerland-Grundschule ist Teil eines Verbunds von internationalen Internet-Schulpartnerschaften. "eTwinning" heißt der Ring, mehr als 200 Schulen machen bereits mit. Alles, was sie brauchen, ist ein Netzanschluss und engagierte Lehrer. Als die EU-Erweiterung Thema im Unterricht war, schickten die Schüler E-Mails an Schulen in Polen und Tschechien. Inhalt: Schön, dass ihr jetzt dabei seid - schreibt doch mal. Und tatsächlich kamen nach wenigen Tagen Antworten von Lehrern und Schülern. Im Englischunterricht schreiben die Kinder Geschichten - gemeinsam mit Schülern aus Japan. "Eine so enge Zusammenarbeit wäre ohne das Internet nie denkbar", sagt Christiane Meisenburg, "die Kinder lernen dabei Fremdsprachen und interkulturelle Kompetenz." Jetzt allerdings klingelt es. Die letzte Stunde ist vorbei, endlich. Jetzt werden die Rechner heruntergefahren - und dann die Stühle hochgestellt.

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Mitarbeit: Nina Ernst

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