In der Corona-Pandemie hat sich die Arbeitswelt in Deutschland immer weiter digitalisiert. Längst haben sich einige Arbeitsbereiche nachhaltig in die digitale Welt verlagert. Ein wichtiges Tool ist das Karrierenetzwerk LinkedIn. Etwa 17 Millionen Menschen im deutschsprachigem Raum nutzen die Plattform. Jedes Jahr kommen rund zwei Millionen hinzu.
Es sind vor allem junge Unternehmer:innen und Akademiker:innen, die sich über die Plattform einen Einstieg in das Berufsleben erhoffen. Ein reines Berufsnetzwerk ist LinkedIn schon lange nicht mehr. Mit den Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf den Arbeitsalltag verschwammen hier zunehmend auch die Grenzen zwischen Privatem und Beruflichen.
Inzwischen wird auf LinkedIn nicht mehr nur über neue Karriereschritte informiert oder ein abgeschlossenes Projekt gefeiert, sondern auch über vergangene Corona-Maßnahmen, Russland oder die vermeintlich "korrupte" Bundesregierung gehetzt. Rechte und verschwörungstheoretische User stellten während der Pandemie immer wieder die Echtheit des Coronavirus in Frage, posteten Hakenkreuze oder verglichen sich als Ungeimpfte mit den Opfern des Holocaust. Viele solcher Postings bleiben monatelang auf der Seite, selbst wenn sie von anderen Usern gemeldet werden. Warum tut sich die Plattform so schwer damit, strafrechtlich relevante Inhalte zu löschen?
Wenig Probleme beim LinkedIn-Kontrahenten Xing
Der Anstieg von Falschinformationen und Hassmeldungen schlägt sich auch in LinkedIns offiziellen Zahlen nieder. Zu Beginn der Corona-Pandemie meldete LinkedIn in seinem halbjährlichen Transparenzbericht lediglich knapp 23.000 Fälle von Falschinformationen und 2600 Hassmeldungen zwischen Januar und Juni 2020. Ein Jahr später waren es bereits 147.500 Postings mit Falschinformationen und mehr als 18.000 Hassmeldungen, die im selben Zeitraum gelöscht wurden. Dazu 147.000 weitere Inhalte mit belästigendem oder beleidigendem Inhalt – rund neunmal so viele wie im Jahr zuvor.
Im Vergleich zu LinkedIn tritt beim größten Kontrahenten Xing nur äußerst selten Hate-Speech auf und das, obwohl beide Netzwerke ähnliche Zielgruppen haben. Die Organisation "Hassmelden" berichtet, dass allein im November 2021 mehr als 1600 beleidigende oder anzügliche Beiträge von LinkedIn gemeldet wurden. Bei Xing waren es 89. Auch Selbsthilfeorganisationen berichten von deutlich weniger Fällen im Zusammenhang mit Xing. Hier werden schlicht weniger jobfremde Inhalte diskutiert. Bei LinkedIn kommen zunehmend gesellschaftspolitische Themen zur Sprache, bei denen sich die Gemüter erhitzen.
Weder die Bundesregierung noch die Plattform selbst haben in den vergangenen Jahren viel gegen Hass und Hetze auf LinkedIn unternommen. Gegenüber der "Zeit" bestätigte das Justizministerium kürzlich Untersuchungen von Facebook und Twitter aufgrund derselben Thematik. Ein ähnliches Vorgehen gegen die Karriereplattform sei dagegen bisher nicht bekannt. Dabei wäre eine strafrechtliche Verfolgung hier so einfach, wie nirgendwo sonst. Schließlich teilen die Übeltäter:innen ihre strafrechtlich relevanten Postings unter ihrem Namen. Auch Beruf und Arbeitgeber sind stets angegeben. Schließlich will hier jede:r geschätzt, beauftragt und von seiner besten Seite gesehen werden.
Frauen berichten von Anmachsprüchen und sexistischen Übergriffen
Ein weiteres großes Problem ist eine Welle an Anmachsprüchen und Sexismus, der sich insbesondere die weiblichen User auf LinkedIn ausgeliefert sehen. Dies machte die Chefin der Abteilung Suchmaschinenoptimierung des SWR, Sarah Stein, deutlich. Ein Nutzer hatte sie mit folgenden Worten privat angeschrieben: "Moin Sarah, normalerweise mache ich das nicht mit dem kommentarlosen Adden, aber du hast wirkliche mal ne außergewöhnliche Ausstrahlung hier. (...) da hab ich mir gedacht, ich sag einfach mal Hallo und schau, was passiert." Sie veröffentlichte die Privatnachricht mit der passenden Antwort – "Es kotzt uns Frauen an." Der Beitrag stieß innerhalb kürzester Zeit auf viel Zuspruch, insbesondere von jungen Berufseinsteiger:innen. In wenigen Stunden erhielt der Post mehr als 3000 Reaktionen und über 500 Kommentare.
Ein ähnliches Schicksal ereilte die Recruiterin Celine Melo Cristino. Nachdem sie immer wieder Nachrichten erreichten, in denen ihre Figur oder ihr Lächeln gelobt wurden, rief sie den Hashtag #linkedinisnotadatingplattform ins Leben. Mittlerweile schmückt dieser Schriftzug viele Beschreibungen weiblicher Profile. Es festigt sich ein Bild: Männer werden tendenziell eher mit Hass konfrontiert, Frauen mit sexualisierten Kommentaren.
Blinder Fleck im NetzDG
LinkedIn ermutigt seine Mitglieder, solche Inhalte zu melden und verweist auf eine unternehmensinterne Statistik, der zufolge 99,6 Prozent aller regelwidrigen Beiträge durch eine Software automatisch gefiltert und gelöscht werden. Anders als bei Facebook und Twitter würde man hier zudem nicht von hochemotionalen Debatten profitieren, die die Nutzer:innen auf der Plattform führen, um so mehr Werbung zu verkaufen. Stattdessen verdient LinkedIn sein Geld hauptsächlich über die Advertising-Maßnahmen der Unternehmen und die Kosten für ein Premium-Konto.
Aussagen von Nutzer:innen zeichnen ein anderes Bild. Diese berichten in diversen Medienbeiträgen von tagelangen Wartezeiten und offensichtlichen Fehlurteilen. Gemeldete Beiträge blieben oft monatelang weiter abrufbar. Warum gibt es hier also weiterhin so viel Hatespeech und Sexismus?
Der Grund ist ein gesetzliches Schlupfloch. Vor sechs Jahren entschied das Bundesamt für Justiz, dass LinkedIn nicht unter das sogenannte Netzwerkdurchsetzugsgesetz, kurz NetzDG, fällt. Das NetzDG verpflichtet soziale Netzwerke wie Facebook seit 2017, sich hasserfüllten Nachrichten so schnell und umfassend wie möglich anzunehmen. Die Plattformen stellten daraufhin hunderte Mitarbeiter:innen ein, um das Problem zu bekämpfen. Sie verfolgen Beschwerden, prüfen die Meldungen und leiten die Fälle gegebenenfalls an Strafbehörden weiter. In Berichten wird dargelegt, wie viele Beiträge und Kommentare gelöscht wurden. LinkedIn gibt dagegen nicht bekannt, wie viele Mitarbeiter:innen sich um Nutzungsbeschwerden kümmern.
Die Karriereplattform fällt nicht unter das Gesetz, weil die User hier laut dem Bundesamt für Justiz nicht "beliebige Inhalte mit anderen Nutzern teilen oder der Öffentlichkeit zugänglich machen". Es würde hier schließlich hauptsächlich um die eigene Karriere gehen.
Die Microsoft-Tochter fungiert allerdings längst nicht mehr nur als Treffpunkt alter und neuer Kolleg:innen und als schwarzes Brett für Jobangebote, sondern ist in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen politischen Sprachrohr geworden. Selbst die Kulturstaatsministerin im Kanzleramt, Claudia Roth, postet hier in regelmäßigen Abständen Updates aus ihrem Berufsalltag. Der Heerinspekteur Alfons Mais klagte hier angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine über den Zustand der Bundeswehr und ein gewisser Altkanzler äußerte sich mehr schlecht als recht über seinen Vertrauten im Kreml. Die Beispiele zeigen, dass es an der Zeit wäre, die Plattform erneut zu prüfen.
Nach einer baldigen Wende zum Besseren sieht es allerdings nicht aus. Die Europäische Union berät derzeit über den finalen Text des Digital Service Acts. Ähnlich zum deutschen NetzDG sollen bald auch in ganz Europa Facebook, YouTube und Twitter illegale Inhalte schnell löschen und ihre Software offenlegen müssen. Tritt die Regelung in Kraft, ersetzt sie das deutsche Gesetz. Welche Version sich durchsetzt, ist noch nicht bekannt. Die schwächste Version aus dem Europaparlament ähnelt allerdings lediglich LinkedIns heutiger Praxis.
Quellen: ZEIT Online, Handelsblatt, LinkedIn Community Report, t3n