Viele Mütter haben ein Lieblingskind. Claudia Herold hat mehr als 3000. Immer, wenn die 28-Jährige von ihrem Halbtagsjob in einer Computerfirma in Regensburg nach Hause kommt, warten sie schon. Erzählen von Liebeskummer und erstem Geknutsche. Vom Ärger mit Kollegen, vom Supersex auf der Tischtennisplatte im Stadtpark oder einfach nur von der Einsamkeit am Wochenende. Beschweren sich, streiten und machen manchmal Ärger, den sie dann schlichten soll. Dazu braucht Claudia Herold nur den Computer in ihrer Wohnung anzuschalten. Denn von dort aus betreibt sie die größte deutsche Tagebuch-Website im Internet: myTagebuch.de.
Tiefsinniges und Triviales
Tausende von Autoren formulieren hier, geschützt durch Pseudonym, Tiefsinniges und Triviales, Poetisches und Politisches. Kids unter zehn ebenso wie Professoren jenseits der 50, Frauen deutlich häufiger als Männer. Sie wollen Gefühle verarbeiten, Erlebnisse festhalten, sich selbst darstellen oder einfach nur Spaß haben. Die Reality-Soap im Netz ist beliebter als mancher Feierabend-Krimi: Mehr als vier Millionen Mal wird myTagebuch.de im Monat angeklickt.
Im Web
"Der Tag heute ging unter Lesen und Warten dahin", langweilt sich dort "Alexbaxter", 30. "Die Typen vom Pro-Markt hatten mir ja zugesagt, den Fernseher zu liefern. Aber natürlich kamen sie nicht." Oder, bekennt die 25-jährige "Kiddy" freimütig: "Ich habe mir die Drei-Monatsspritze geben lassen. Bin jetzt entspannter bei der Sache."
"Ich versuch doch nur, glücklich zu sein, aber meine Mutter will das anscheinend nicht", schreibt dagegen die 16-jährige Meggie: "Mein größter Wunsch wäre, dass ich ausziehen kann". Ein Hilferuf?
"Manchmal geht das richtig unter die Haut, was die Leute so mitteilen", findet Claudia Herold. "Trotzdem glaube ich, wir haben eine schöne Community."
Die tippenden Seelenstripper zahlen sogar dafür
Rückmeldungen sind ausdrücklich erwünscht. Den tippenden Seelenstrippern ist Feedback wichtig. "Richtig interessant wird es doch erst, wenn man Kommentare kriegt", erklärt Sonja Brückner, 23, die seit einem Jahr Tagebuch schreibt. "Eigentlich ist mein Leben nämlich ziemlich unspektakulär - dass ganz unbekannte Leute daran Anteil nehmen, finde ich spannend." Monatlich zahlt sie 1,50 Euro dafür.
Was ist Dichtung, was ist Wahrheit?
Claudia Herold, die Einzige, die weiß, wer sich hinter den Pseudonymen verbirgt, nimmt sich alles zu Herzen. Liest mit, achtet auf den Jugendschutz, schließlich ist mehr als die Hälfte ihrer Autoren unter 21. Schon öfter hat sie daran gedacht, die Polizei zu verständigen, weil es auf ihrer Site so viele Essgestörte und Depressive gibt. Aber - was ist Dichtung im Tagebuch und was Wahrheit?
Trotz dieses Erfolgs - leben kann die junge Mutter der virtuellen Nation von ihrer Webseite bisher nicht. Mehr als eine Woche Urlaub auf Teneriffa war von den Gebühren noch nicht drin. "Aber irgendwann will ich mit der Site auch etwas mehr machen", sagt sie, "schließlich bin ich nicht Mutter Teresa."