Deutschland versinkt in den Fluten. Seit Tagen kämpfen Tausende gegen die steigenden Wassermassen. Sie schichten Sandsäcke, schleppen Eimer, retten ihr Hab und Gut. Nicht nur am Deich ist die Solidarität groß, sondern auch im Netz: Die Social-Media-Kanäle Facebook und Twitter sind zu Helfer-Plattformen geworden. Hier organisieren die Helfer trockene Kleidung und Übernachtungsmöglichkeiten für Betroffene. Doch nun, inmitten der Welle der Solidarität, verbreitet sich ein Foto rasend schnell: Es zeigt den Facebook-Kommentar einer Frau namens Andrea Richter* (Name wurde von der Redaktion geändert), der angesichts der Situation beleidigender kaum sein könnte. "Mein Gott, was seid ihr hier bloß für ein widerwärtiges Ossi-Pack", schreibt die Nutzerin. "Von mir aus könnt ihr in den Fluten ersaufen. Das einzige, was ihr könnt, ist jammern. Ich ziehe meine Stiefel noch heute an, nehme Hammer und anderes Zeugs, um die Mauer wieder aufzubauen."
Wo der Hochwasser-Kommentar zuerst gepostet wird, ist nicht bekannt. Doch ein User verbreitet einen Screenshot davon, daneben photoshoppt er ein weiteres Bild, das den vollständigen Namen, die Adresse, E-Mail und Handynummer der Frau zeigt. Der Shitstorm nimmt seinen Lauf. Andrea Richter wird beschimpft und beleidigt. "Ich werde telefonisch und per SMS bedroht", sagt sie stern.de in einem Telefongespräch. "Es gibt Aufrufe zur Massenvergewaltigung und Mord." Rund 300 beleidigende E-Mails seien in ihrem Postfach gelandet, etwa tausend SMS habe sie erhalten.
Auch in den Kommentaren unter dem Bild ist der Ton rau: Sie wird als "dumme Tussi" beschimpft, viele User bezeichnen ihre Äußerung als menschenverachtend. Einige Männer hätten bereits gedroht, ihr am Wochenende aufzulauern, "es ihr richtig zu besorgen" und sie dann "zum Abschuss freizugeben", sagt Andrea Richter.
E-Mail an den Arbeitsgeber
An Fahrt gewinnt die Online-Hetzjagd, als der Facebook-User Marcel Frömter die von einem Unbekannten veröffentlichten Daten nutzt und herausbekommt, wo Andrea Richter arbeitet. Die 49-Jährige arbeitet für eine Zeitarbeitsfirma und wird derzeit bei einem Pharmaunternehmen als Verwaltungsassistentin beschäftigt. Frömter beschließt, das Bild an ihre Arbeitgeber zu schicken. "Es geht um eine ihrer Mitarbeiterinnen", schreibt Frömter in der Nachricht. "Diese FrauRichter hält es für nötig, die komplette Bevölkerung des deutschen Ostens auf eine Art und Weise zu beleidigen, die ihresgleichen sucht." Der User hat den Brief zudem offen einsehbar auf einer Facebook-Seite hochgeladen, wo sich Betroffene der Region Dresden miteinander austauschen. Allein dort wurde er mehr als 10.000 Mal geteilt und ebenso oft gelikt, mittlerweile wurde der Beitrag gelöscht. Doch längst kursiert das Bild samt vollständiger Adresse in dem sozialen Netzwerk. Das Pharmaunternehmen hat mittlerweile reagiert und Frau Richter freigestellt, bis die Vorwürfe geklärt sind.
Einige User feiern Marcel Frömter für seine "Zivilcourage", andere verurteilen sein Vorgehen. "Beim Arbeitgeber darum bitten, dass sie gekündigt wird, ist auch nicht gerade menschenfreundlich! Dann ist sie halt dumm und respektlos. Müssen wir uns dann genauso verhalten?", fragt ein User. Ein anderer schreibt: "Du kannst doch nicht sämtliche Details hier auf Facebook posten, nur weil dir ihre Meinung nicht passt. Und den Arbeitgeber anzuschreiben ist ebenfalls ein Ding der Unmöglichkeit!"
"Mein Facebook-Account wurde gehackt"
Auch Andrea Richter hat sich nun öffentlich zu Wort gemeldet. "Mein Facebook-Account sowie mein Yahoo-Mail, mein Online-Banking-Zugang und mittlerweile auch mein web.de-Mail wurden gehackt", schreibt sie via Facebook. Sie selbst bezeichnet den Beitrag als "unschönen Artikel", der von Fremden auf einer ihr bislang unbekannten Seite veröffentlicht wurde. Und sie stellt klar: "Ich kann mich davon nur distanzieren." Sämtliche SMS und E-Mails habe sie an die Kripo weitergeleitet. Ihr Beitrag wurde mittlerweile fast 2000 Mal geteilt. Außerdem sagt sie stern.de, dass sie bereits Strafanzeige gestellt habe.
Also ist alles ein großes Versehen? Marcel Frömter, der das Bild verbreitet und die Nachricht an Andrea Richters Arbeitgeber geschrieben hat, bezweifelt das. "Ihre Version der 'ich wurde gehackt'- Story glaubt ihr doch eh keiner, das ist doch reiner Selbstschutz", schreibt er stern.de. Den Vorwurf, er würde Rufmord begehen, weist er von sich: "Ich möchte ganz klar sagen, dass ich nichts getan hab, was man mir anlasten kann. Ich hab lediglich das Bild geteilt und ihren Arbeitgeber findet jeder im Internet, wenn er ihren Namen hat. Und ich hab sie ja auch nicht beleidigt oder sonst irgendwas...der 'Shitstorm' ist ja von mir nicht zu regulieren."
Eine Unschuldige gehetzt?
Und wenn sich Frömter geirrt hat und deshalb eine Unschuldige dutzendfach beleidigt wurde? "Sollte das wirklich stimmen, mit dem angeblichen Hack, dann habe ich kein Problem damit, mich auch zu entschuldigen und Konsequenzen zu tragen", schreibt Marcel Frömter. "Aber ich bin davon überzeugt, dass dies eine Ausrede der Dame ist." Dass es zu einer baldigen Entschuldigung kommt, darf bezweifelt werden: Ob und wie der Facebook-Account gehackt wurde, wird nur schwer herauszubekommen sein. Auch wie sich die Bilder verbreitet haben, ist aufgrund zahlreicher Löschungen nur noch schwer nachvollziehbar. Andrea Richter hat bei Facebook mittlerweile ihr Archiv angefordert, mit dem sie herausbekommen will, wann der Post wo und von welcher IP-Adresse aus geschrieben worden sein soll.
Tagelang sei sie am Telefon belästigt worden, sagt Andrea Richter. Am Mittwoch hätte sie SMS im Minutentakt bekommen. Mittlerweile habe sich die Lage aber etwas beruhigt, doch noch immer erhält sie vereinzelt Nachrichten. "Was hier abgeht, kann ich nicht mehr nachvollziehen", sagt Andrea Richter. "Hier geht es nicht mehr um einen Beitrag, der noch nicht mal von mir publiziert wurde, sondern um schwerwiegende Kriminalität. Obwohl der Hacker-Nachweis vorliegt und ich dieses auch bereits mehrfach kommuniziert habe, scheint das die Meute überhaupt nicht zu interessieren, im Gegenteil." Die erste Konsequenz hat sie bereits gezogen - und sich eine neue Telefonnummer besorgt.
Der Autor Christoph Fröhlich auf Google+