Das ist das komplizierteste wissenschaftliche Projekt der Welt. Und dabei schließe ich sämtliche Programme der Nasa mit ein!" In einer unterirdischen Halle, groß wie ein Kirchenschiff, steht Physiker Frank Hartmann vor einem mehrstöckigen Monstrum aus Metall. Der 12.500 Tonnen schwere Klotz namens CMS fungiert als riesenhafte Spürnase für kleinste Materieteilchen - und ist Teil einer Forschermaschine der Superlative: Der "Large Hadron Collider" (LHC) ist der größte und teuerste Teilchenbeschleuniger aller Zeiten.
Der Riese gehört zum Europäischen Teilchenforschungszentrum Cern bei Genf, er ist in einen 27 Kilometer langen, unterirdischen Ringtunnel eingebaut. Seine Mission: den Physikern verraten, wie unsere Welt zusammengesetzt ist.
Schon lange wissen die Forscher, dass sämtliche Materie aus Atomen besteht und diese aus noch kleineren Teilchen. Am Ende stehen nach heutiger Kenntnis nicht mehr teilbare Urbausteine, unter ihnen die sogenannten Quarks.
Aber damit sind längst noch nicht alle Fragen geklärt. Eine der wichtigsten: Warum haben Elementarteilchen und damit auch wir und alle Dinge um uns herum eine Masse - warum wiegt Materie etwas? Warum reagiert sie auf Schwerkraft?
Das Teilchen "Higgs" hat noch keiner gefunden
In der Theorie hat der schottische Physiker Peter Higgs diese Frage schon in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts beantwortet: Er berechnete, dass es ein Teilchen geben müsse, das Materie ihre Masse verleiht. Inzwischen nennen Physiker in aller Welt dieses Teilchen seinem Erfinder zu Ehren "Higgs" - nur gefunden hat es keiner. Das soll jetzt mithilfe des LHC gelingen. Eine der wichtigsten Hürden auf dem Weg zu einer "Weltformel", die alle physikalischen Phänomene schlüssig erklärt, wäre damit überwunden - und der Nobelpreis sicher.
Etwa 9000 Forscher aus aller Welt haben mehr als zwei Jahrzehnte lang an dem Megaprojekt getüftelt und gebaut. Nun dürfen sie am 10. September den Startknopf drücken und eine spektakuläre Prozedur in Betrieb setzen: In zwei armdicken, luftleeren und parallel verlaufenden Stahlröhren kreisen Protonen mit nahezu 300.000 Kilometern pro Sekunde - fast so schnell wie das Licht. 9300 extrastarke Magneten halten sie auf der 27 Kilometer großen Kreisbahn.
Milliarden von Teilchen sind zu haarfeinen Paketen gebündelt. Die eine Hälfte der Pakete kreist im Uhrzeigersinn, die andere entgegengesetzt. An vier Stellen des Rings kreuzen sich die Schwärme. Einige Protonen treffen sich frontal und prallen mit voller Wucht aufeinander.
Dabei flammt für Sekundenbruchteile ein winziger Feuerball auf, aus dem sich flugs neue Teilchen bilden. Die fliegen in alle Richtungen davon - beobachtet und verfolgt von vier haushohen Detektoren voller sensibler Messinstrumente. Welche Teilchen entstehen und wie sie sich wegen ihrer jeweils typischen Eigenschaften vom Zentrum der Kollision entfernen - daraus können die Physiker schließen, ob ihre Theorien vom Aufbau unserer Welt stimmen. Neben der Suche nach "Higgs" soll der Riesenring viele weitere Rätsel des Universums knacken, etwa dessen Ursprung erforschen oder herausfinden, woraus jene "dunkle Materie" besteht, die Astronomen im Weltall vermuten, die aber nicht sichtbar ist.
Die Angst vor schwarzen Löchern
Einige Forscher glauben sogar, der Superbeschleuniger könne schwarze Löcher erzeugen. Bislang kennt man sie nur als monströse Himmelskörper mit einer so gewaltigen Anziehungskraft, dass sie sogar Licht verschlucken und deshalb schwarz sind. "Wenn der LHC Protonen aufeinanderschießt, könnte die Gravitationskraft zwischen ihnen derart stark werden, dass sich ein winziges schwarzes Loch bildet", vermutet der Frankfurter Physiker Marcus Bleicher, der am Cern forscht. Zwar fürchten manche Kritiker, dass solche Minilöcher hochgefährlich seien und die Erde vernichten könnten. Doch Bleicher beruhigt: "Das können wir kategorisch ausschließen." Schon seit Jahrmilliarden hämmert kosmische Strahlung auf die Erde ein - mit Energien, die deutlich höher als im LHC sind. Sollten bei solchen Vorgängen schwarze Löcher entstehen können, wäre das auf der Erde längst passiert.
Die Suche nach "Higgs" ist teuer: Mitsamt den Detektoren hat der Bau des LHC rund vier Milliarden Euro gekostet. Oft genug müssen sich die Physiker am Cern fragen lassen, was ihre Grundlagenforschung denn an konkretem Nutzen für die Menschheit bringe. Darum geht es bei dem Teilchenbeschleuniger nicht, sondern um die großen, fast philosophischen Fragen, die sich Menschen wohl schon immer stellen: Sie wollen, wie Goethe formulierte, wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und die Physiker hoffen, dass der Genfer Gigant sie der Antwort einen großen Schritt näher bringt.